"Ich würde nichts ändern": Ex-Talent des FC Liverpool glänzt in der 9. Liga - mit 95 Saisontoren

Die Marke von 100 Saisontoren wäre dann wohl geknackt worden. Die Saison 2024/25 verbrachte Yesil bei Anadolu Türkspor 77/78 II aus Krefeld. Der Klub spielt in der Kreisliga B, Gruppe 3, Kempen & Krefeld. Das ist die 9. Liga im deutschen Fußball.

Dort hat Yesil, der Ende Mai erst 31 Jahre jung wurde, völlig irre Statistiken aufgelegt. 95 Saisontore waren ihm in 25 Ligapartien gelungen, 37 Treffer bereitete er vor. Er war somit an 132 Buden seiner Mannschaft beteiligt. Das bedeutet einen Anteil von knapp 60 Prozent an allen Treffern von Anadolu.

Der Aufsteiger stieg dank Yesil unglaublich souverän direkt erneut auf. 28 Siege gelangen in 28 Spielen, bei einem Torverhältnis von 223:22 und elf Punkten Vorsprung vor "Verfolger" SuS Krefeld, das ein um 101 (!) Tore schlechteres Torverhältnis aufwies.

Yesil hatte sich zum Saisonstart 60 Treffer als Ziel gesetzt. Am Ende fehlten ihm fünf für die 100 und 13, um Deutschlands allerbester Torjäger des Jahres zu werden. Dieser Titel - die vor sechs Jahren von DFB, kicker und Volkswagen ins Leben gerufene "Torjägerkanone für alle" - ging jedoch an Talha Aydin vom Elfligisten DSC Wanne-Eickel mit 107 erzielten Treffern. Yesil hätte dafür in seinen drei verpassten Begegnungen also etwas mehr als über seinem Toreschnitt von 3,8 abliefern müssen.

In Deutschlands 9. Ligen war trotzdem keiner besser als er, der lediglich an einem Sonntag im September beim 2:1-Auswärtsieg gegen den VfR Krefeld nicht traf. "'Wie kann man nur so abstürzen', musste ich mir tatsächlich schon von einigen Zuschauern anhören", sagte er fussball.de im Laufe der Saison. "Ob ich nun in der Kreisliga B oder Regionalliga spiele, ist mir persönlich egal. Hauptsache, ich habe den Spaß am Fußball zurückgewonnen."

Im neuen Spieljahr wird es für Yesil nun die Kreisliga A sein, aber die in Düsseldorf. Auf den Ende April bereits verkündeten Plan, bei Anadolu künftig Spielertrainer zu werden, konnte sich am Ende doch nicht geeinigt werden. Stattdessen läuft Yesil künftig für Türkgücü Ratingen auf. 2022/23 kickte er in derselben Stadt schon für den Oberligisten 04/19.

Türkgücü wird Yesils zwölfter Verein seit 2005 sein und der siebte seit Januar 2020. Ein einziger Titel im Seniorenbereich steht in seiner Vita: Der Sieg im Landespokal Niederrhein vor sechs Jahren mit dem KFC Uerdingen 05. Doch dort kam Yesil nur auf vier Pflichtspiele und 100 Einsatzminuten.

Uerdingen war der Start in Yesils Leben als Vereinshopper und mit dem Wissen von heute auch das endgültige Ende seiner ambitionierten Zeit als Profi. Im Jahr zuvor, Anfang 2017, hatte er sich nach seinem Vertragsende in Liverpool und einem halben Jahr Vereinslosigkeit Panionios Athen angeschlossen.

Neun Tore in 44 Pflichtspielen standen dort für Yesil zu Buche, doch der Klub hatte massig Schulden bei der griechischen Regierung und musste letztlich den Gang in den Amateurbereich antreten. "Der einzige Grund, warum ich den Verein verließ, war, dass die Zahlungen entweder zu spät erfolgten oder dass sie 'vergaßen', mich komplett zu bezahlen", sagte Yesil einst The Athletic. "Sie zahlten im Januar und dann gab es bis Oktober oder November nichts mehr. Es war nicht einfach, ohne Geld zu leben."

Das war es für ihn auch in den Jahren zuvor nicht, trotz Geld. Im Sommer 2015 liehen ihn die Reds zu Trainer Markus Babbel, ein Ex-Liverpooler, an den FC Luzern aus. Yesil schoss in seiner ersten Partie von Beginn an das Siegtor beim 1:0 gegen den FC Zürich. "Ich dachte: Ich bin wieder da", erinnerte er sich.

Doch Babbel und Luzerns Präsident gerieten in Clinch, an dessen Ende zwei neue Stürmer kamen und fortan ein Fußball gespielt wurde, der viele lange Bälle vorsah. Das war für den 1,80 Meter großen Angreifer nicht gemacht.

Yesil sah Jahre später ein, dass auch sein Körper "einfach nicht für den Profi-Sport gemacht" ist, wie er dem kicker erklärte. "Immer wenn man dachte, man ist wieder bei 100 Prozent, kam der nächste Rückschlag. Das macht etwas mit dem Kopf. Irgendwann hatte ich keine Lust und Kraft mehr."

Ein bitteres Fazit, wenn man bedenkt, wie nur wenige Jahre zuvor seine Karriere begann. 2011 wurde Yesil als Spieler von Bayer Leverkusen bei der U17-EM mit drei Toren Torschützenkönig. Nur einen Monat später kamen bei der WM in Mexiko sechs Treffer und acht Vorlagen in sieben Partien hinzu. Deutschland wurde Dritter, Yesil erhielt den Silbernen Schuh.

"Ich wollte nur Fußballer werden. Ich habe nicht davon geträumt, der nächste Messi oder Ronaldo zu sein. Es ging mir nicht darum, viele Millionen zu verdienen", sagte er Jahre später. Doch damals klingelte die Kasse für den als Mega-Talent gehandelten Yesil.

Im April 2012 folgte bei der Werkself sein neunminütiges Debüt in der Bundesliga. Das war es auch schon, vier Monate später unterschrieb er in Liverpool, das 1,3 Millionen Euro für ihn hinlegte. Yesil gehörte zu den ersten Verpflichtungen unter Brendan Rodgers und saß auf einmal in der Kabine mit Weltklassespielern wie Steven Gerrard, Luis Suarez oder Philippe Coutinho zusammen.

Zwei Partien machte Yesil für Liverpool, jeweils im League Cup. Im Achtelfinale zu Hause gegen Swansea City stand er vor fast 40.00 Zuschauern an der Anfield Road sogar in der Startelf. "Das war das größte Highlight. Das werde ich nie vergessen", sagte er.

Doch gerade die körperlichen Anforderungen, die sich stark von seinen Erfahrungen in Deutschland unterschieden, machten es Yesil schwer, Fuß zu fassen. Dann kam der Februar 2013 und ein Freundschaftsspiel mit der deutschen U19 gegen Italien - auf Kunstrasen. Yesil verdrehte sich das Knie, spielte weiter, reiste zurück nach Liverpool, trainierte 20 Minuten lang und brach ab, "weil die Schmerzen so stark waren".

Ein MRT bestätigte den Kreuzbandriss, der dem zuvor nie ernsthaft verletzten Yesil acht Monate Pause einhandelte. Nur ein Vierteljahr nach seinem Comeback krachte es im Training bei den Reds erneut - selbe Stelle, selbe Verletzung. Statt wie zuvor in London ließ sich Yesil nun in Deutschland operieren. Zehn Monate fiel er aus. Er nahm während der Reha in der Heimat einige Kilos zu und gestand später, dass er in dieser Zeit ans Aufhören dachte.

Das tat er nicht, doch die beiden schweren Verletzungen und zahlreiche kleinere, weitere Blessuren verhinderten letztlich den Traum einer längeren Profikarriere. Yesil stieg mit den Jahren immer weiter die Ligen hinab. Aber, und das ist doch die Hauptsache im Leben: Er wurde auch immer glücklicher.

Heute weiß er sehr zu schätzen, was er hatte und vor allem hat. Yesil ist verheiratet, ist Vater zweier gesunder Kinder und hat gut mit seinem Geld gehaushaltet. Neben einem Ferienhaus in der Türkei besitzt er eines in Deutschland und war auch in der Lage, eines seinen Eltern zu spendieren. Zuletzt beendete er eine Umschulung zum Logistiker.

"Ich glaube fest daran, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht", sagte er im kicker. "Natürlich könnte man sich fragen, was hätte sein können. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich nichts ändern. Wie oft bekommt man schon die Chance, für den FC Liverpool zu spielen?"