Brasilien stellt als einzige Nation vier Starter bei der Klub-WM in den USA - und alle vier qualifizierten sich souverän für das Achtelfinale. Die beeindruckende Bilanz: sechs Siege, fünf Remis und nur eine Pleite. Palmeiras und Flamengo gewannen ihre jeweiligen Gruppen sogar vor den europäischen Vertretern. Botafogo bezwang den aktuellen Champions-League-Sieger Paris Saint-Germain im direkten Duell, Flamengo den FC Chelsea, Fluminense holte ein Remis gegen Borussia Dortmund.
Getty Images"Ich kann es nicht mehr hören!" Brasiliens Triumphzug bei der Klub-WM führt eine europäische Debatte ad absurdum
Auf der Suche nach Gründen für den brasilianischen Erfolgslauf zunächst einmal ein Halt bei der Anzahl der Starter: Vier, weil vier verschiedene Klubs aus Brasilien die vergangenen vier Ausgaben der Copa Libertadores gewonnen haben. Mehr noch: In den zurückliegenden sechs Jahren kamen zehn der zwölf Finalisten im wichtigsten Klub-Wettbewerb Südamerikas aus Brasilien, alle sechs Trophäen gingen ins größte Land des Kontinents.
Nach Jahrzehnten des engen Ringens mit den Topklubs aus Argentinien um die südamerikanische Vorherrschaft haben die Brasilianer in der jüngeren Vergangenheit komplett das Kommando übernommen. Sportlich und auch finanziell sind sie den Rivalen aus dem wirtschaftlich arg kriselnden Argentinien enteilt.
Das zeigt auch ein Blick auf die Kader-Marktwerte beim Fachportal Transfermarkt. Da reihen sich Palmeiras (253 Millionen Euro), Flamengo (221) und Botafogo (163) noch vor Al-Hilal aus Saudi-Arabien direkt hinter den europäischen Vertretern ein. Einzig Fluminense, das in der vergangenen Saison übrigens beinahe abgestiegen wäre, liegt wie die beiden argentinischen Topklubs bei etwa 100 Millionen. River Plate und die Boca Juniors scheiterten bei der Klub-WM übrigens bereits in der Gruppenphase, Boca blamierte sich dabei gegen die Amateure von Auckland City.
"Es gibt acht bis zehn Mannschaften weltweit, die auf einem anderen Niveau sind", findet Flamengo-Trainer Filipe Luis. "Aber darunter sind die Brasilianer auf dem gleichen Level wie die Europäer."
Zahlen hinter dem brasilianischen Erfolgslauf
Der wirtschaftliche Aufschwung hängt eng mit einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 2021 zusammen, die den brasilianischen Fußball für Investoren öffnete. Botafogo schloss sich daraufhin beispielsweise der Eagle Football Holding an, einem Multi-Club-Ownership des US-amerikanischen Investors John Textor. Es folgte ein rasanter Aufstieg, der im vergangenen Jahr mit dem Gewinn des Meistertitels und der Copa Libertadores seine Krönung fand. Im Laufe der Saison investierte der Klub beachtliche 100 Millionen Euro in Neuzugänge, die meisten davon sind Anfang oder Mitte 20.
Aber die neuen Chancen bergen auch Risiken, das zeigt sich in Botafogos Netzwerk und Nachbarschaft. Olympique Lyon, ebenfalls Teil von Eagle Football, wurde vor wenigen Tagen aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten zum Zwangsabstieg aus der französischen Ligue 1 verdonnert. Botafogos Stadtrivale Vasco da Gama geriet in die Fänge von 777 Partners, in deren Portfolio sich auch der Genoa CFC, Standard Liege, Red Star Paris, Hertha BSC, der FC Sevilla und Melbourne Victory befanden. Das Imperium brach schnell zusammen, nun plagen Vasco Schulden und Gerichtsverfahren.
Palmeiras aus der Wirtschaftsmetropole Sao Paulo profitiert derweil vom Sponsoring der Bank Crefisa. Mit rund 90 Millionen Euro gab Brasiliens erfolgreichster Klub der vergangenen Jahre nur unwesentlich weniger als Botafogo aus. Unter anderem holte Palmeiras den 20-jährigen Stürmer Vitor Roque für 25 Millionen Euro vom FC Barcelona zurück. Mit dem Allianz Parque verfügt Palmeiras zudem über eine der modernsten Arenen Südamerikas.
Einen riesigen Neubau plant aktuell auch Flamengo, das sich derzeit das legendäre Maracana mit dem Stadtrivalen und Bruder Fluminense teilt. Tatsächlich entstand Flamengo aus einer Abspaltung von Fluminense. Nachbar der Brüder ist übrigens der dritte Klub-WM-Teilnehmer aus Rio de Janeiro. Das Viertel Botafogo grenzt an Flamengo - und beginnt nur wenige hundert Meter von Fluminenses Vereinssitz in Laranjeiras entfernt.
GettyRückkehrer, Talente - und die Besten des Kontinents
Trotz der ähnlichen Startbedingungen des Trios avancierte Flamengo zum mit Abstand größten und beliebtesten Klub des Landes. In einer sportlich totalen Dominanz, wie sie beispielsweise der FC Bayern in Deutschland oder PSG in Frankreich innehaben, resultierte das aber nicht. Flamengo hat erst sieben Meistertitel gewonnen. Rekordmeister Palmeiras steht bei zwölf, Fluminense bei vier und für Botafogo war der letztjährige Triumph überhaupt erst der dritte Titel. In den vergangenen fünf Jahren gab es vier verschiedene Meister.
Nicht nur aufgrund der breiten Spitze kommt die brasilianische Serie A mittlerweile wie eine Art südamerikanische Premier League daher. Dank der finanziellen Möglichkeiten zieht es aktuell die besten Spieler des Kontinents nach Brasilien. Zumindest die, die nicht nach Europa wollen. Fluminenses Offensivstar ist der Kolumbianer Jhon Arias, bei Palmeiras trägt der Paraguayer Gustavo Gomez die Kapitänsbinde, bei Botafogo der Venezoelaner Jefferson Savarino die Rückennummer 10 und bei Flamengo der Uruguayer Giorgian de Arrascaeta.
Dazu kommen erfahrene Europa-Rückkehrer. Fluminense setzt in der Innenverteidigung beispielsweise auf den 40-jährigen ehemaligen Nationalmannschafts-Kapitän Thiago Silva, der lange für Chelsea und PSG spielte. Bei Bayerns Achtelfinal-Gegner Flamengo kicken Danilo (33, Juventus Turin), Alex Sandro (34, Juventus), Gerson (28, AS Roma) und sogar der italienische Europameister Jorginho (33, einst bei Chelsea).
Die dritte Kader-Zutat sind selbst ausgebildete Toptalente. Nach ersten Schritten in der Heimat ziehen sie trotz des generellen Aufschwungs des brasilianischen Fußballs aber weiterhin verlässlich nach Europa. Vor allem Palmeiras erwies sich in jüngerer Vergangenheit als hochklassiger Export-Experte: Endrick wechselte zu Real Madrid, Vitor Reis zu Manchester City, Estevaos Transfer nach der Klub-WM zu Chelsea ist schon fix. Zusammen brachten sie 114 Millionen Euro ein.
Die europäische Belastungs-Debatten sorgen in Brasilien für Unverständnis
Diese Kader-Zusammensetzungen scheinen sich bei der Klub-WM zu bewähren. Dazu profitieren die brasilianischen Mannschaften von den grundsätzlichen Rahmenbedingungen in den USA. Widrige Wetterkapriolen und Spiele in verschiedenen Klimazonen sind sie - anders als ihre europäischen Gegner - aus dem Liga-Alltag gewohnt. Hier tropische Schwüle, dort gnadenlose Hitze und dann auch mal ein monsunartiger Regenguss.
Die europäischen Belastungs-Debatten sorgen in Brasilien derweil für Unverständnis. Copa-Libertadores-Sieger Botafogo absolvierte in der vergangenen Saison 74 Pflichtspiele. Zum Vergleich: Das europäische Pendant PSG kommt auf 58, der FC Bayern auf 51. "Brasilianische Klubs haben 70 bis 80 Spiele im Jahr, aber hier nutzt das keiner als Ausrede und sagt, die sind müde", erklärte Fluminense-Trainer Renato Gaucho kürzlich. "Jetzt heißt es nach unseren Siegen: Oh, die Europäer kommen aus einer harten Saison. Ich kann es nicht mehr hören."
Tatsächlich machten die Brasilianer aus einer Not eine Tugend, Belastungssteuerung zu einem Spezialgebiet. "Bei Botafogo sind wir im Performance-Management unglaublich gut", sagte Michael Gerlinger neulich im SPOX-Interview. "Meiner Meinung nach war das einer der Hauptgründe, warum wir derartige Erfolge gefeiert haben. Überhaupt arbeiten die Brasilianer im Bereich Performance sehr fortschrittlich." Gerlinger hat den Vergleich: Er arbeitete viele Jahre lang für den FC Bayern, mittlerweile ist er als Direktor von Eagle Football für Lyon und Botafogo tätig.
Getty ImagesDie Südamerikaner nehmen die Klub-WM ernster als die Europäer
Abschließend noch ein ganz banaler Fakt: Die Südamerikaner nehmen die Klub-WM ernster als die Europäer. Hier gilt ein Sieg in der Champions League als ultimativer Triumph, dort braucht es dafür nach dem Gewinn der Copa Libertadores auch noch den Erfolg im interkontinentalen Kräftemessen.
Das führte einst zu gewalttätige Fußball-Schlachten, weshalb die europäischen Kontinentalmeister teilweise auf ihre Teilnahmen am damals noch Weltpokal genannten Wettbewerb verzichteten. Der FC Bayern beispielsweise 1974 und 1975. Wenn die Europäer aber mal mitspielen und auch noch besiegt werden, dann ist das der Höhepunkt der Klubgeschichte. Zicos Flamengo 1981 gegen den FC Liverpool, Juan Roman Riquelmes Boca 2000 gegen Real Madrid, die Corinthians aus Sao Paulo 2012 gegen Chelsea - bis heute übrigens der letzte südamerikanische Triumph.
Während die aktuelle Klub-WM in Europa eher wenig Beachtung findet (ähnlich übrigens wie im Austragungsland USA), herrscht um die brasilianischen Klubs größte Euphorie. Tausende Fans unterstützen ihre Mannschaften vor Ort in den USA lautstark. Und wer nicht live dabei sein kann, dreht eben daheim in eigens für die Klub-WM eingerichteten Fanzonen durch - etwa direkt an Rios legendärem Strand Copacabana.