Gala gegen den BVB beweist es: Der kompletteste Spieler der Welt spielt aktuell womöglich in der Bundesliga

Im Vergleich dazu erscheint seine Ausbeute von nur einem Treffer beim 2:1-Sieg gegen Borussia Dortmund fast schon mickrig. Und dennoch nannte Kane seine Leistung anschließend "eine der besten meiner Karriere". BVB-Verteidiger Nico Schlotterbeck huldigte Kane als "wahrscheinlich komplettesten Stürmer Europas" und untertrieb damit natürlich maßlos. Kane ist schließlich längst kein Stürmer mehr. Gegen Dortmund schloss er gewissermaßen seine Entwicklung vom Torjäger zum aktuell womöglich komplettesten Spieler der Welt ab. 

Dazu fünf Sequenzen.

Minute 11: Am eigenen Strafraum geht Kane in ein riskantes Dribbling, setzt sich mit aller Gelassenheit durch und leitet einen gefährlichen Konter ein.

Minute 22: Kane köpfelt eine Ecke von Joshua Kimmich zum 1:0 ins Tor. Es war sein 19. Treffer im elften Pflichtspiel dieser Saison.

Minute 78: Halbrechts tief in der eigenen Hälfte ist Kane entscheidend an einem Ballgewinn beteiligt und passt dann diagonal über den ganzen Platz perfekt zu Luis Diaz, der dann in die Mitte schiebt, wo letztlich Michael Olise zum 2:0 verwandelt. Insgesamt schlug Kane elf erfolgreiche lange Pässe und stellte damit einen neuen Karriere-Bestwert auf.

Minute 90: Dortmund hat mittlerweile verkürzt und drängt nun auf den Ausgleich. Fabio Silva macht sich an der Strafraumgrenze zum Abschluss bereit, doch Kane grätscht ihm den Ball vom Fuß. Insgesamt bestritt er 13 Zweikämpfe (die meisten aller Münchner) und gewann davon zehn.

Pressekonferenz: BVB-Trainer Niko Kovac führte die Dortmunder Unterlegenheit in der ersten Halbzeit erstaunlich offen auf Kanes tiefe Positionierung zurück.

Überraschend kam Kanes Rolle beim Spitzenspiel übrigens keineswegs. Mit dem zuletzt gesetzten Serge Gnabry an seiner Seite agierte Kane zwar nominell als Mittelstürmer, ließ sich aber auch regelmäßig fallen. Gegen Dortmund musste Gnabry wegen Adduktorenproblemen kurzfristig passen. Dafür rückte Nicolas Jackson in die Mannschaft. Wie schon bei dessen vorherigen beiden Startelf-Einsätzen (4:1 gegen die TSG Hoffenheim, 5:1 gegen den FC Pafos) übernahm Jackson den Mittelstürmer-Posten und Kane rückte fest eine Reihe nach hinten.

Dass Kane sein Spiel dort derart allumfassend aufziehen konnte, lag auch an zwei anschließend viel kritisierten Kollegen. Einerseits Leih-Stürmer Jackson höchstselbst, der kaum ins Münchner Kombinationsspiel eingebunden war und keinen einzigen Abschluss zustande brachte. Andererseits Königstransfer Luis Diaz, der zwar immerhin viele Abschlüsse zustande brachte, sich dabei jedoch (erneut) als Chancentod erwies.

Höchst berechtigte Kritikpunkte, aber: Wieder und wieder starteten die beiden in die Tiefe, banden damit die Dortmunder Verteidiger, zogen den schwarz-gelben Block so auseinander und schufen in der Spielfeldmitte Platz für Kane. Eine entscheidende Rolle spielten Jackson und Diaz auch beim lange hervorragenden Münchner Pressing, das in einigen hohen Ballgewinnen resultierte. Vor allem Jackson lief wiederholt energisch an. Exemplarisch steht eine Szene in Minute 3: Jackson attackiert Waldemar Anton im Dortmunder Strafraum, Kane gewinnt deshalb den Ball und kurz darauf hat Michael Olise eine gute Chance.

Mit dieser Ausrichtung dominierten die Münchner Dortmund in der ersten Halbzeit komplett. Der Kontrollverlust erfolgte im Laufe der zweiten Halbzeit, als Dortmund mit Ramy Bensebaini statt Niklas Süle mutiger wurde, Dauerbrenner Diaz gleichzeitig etwas ermüdete und Jackson für Leon Goretzka den Platz verließ. Ganz offensichtlich zeigten sich hierbei die Gefahren des dünnen Kaders. Trainer Vincent Kompany hatte gegen den BVB - obwohl nur Gnabry und Jamal Musiala fehlten - keinen arrivierten Offensivspieler mehr auf der Bank. In den 61 Minuten bis zu diesem Wechsel verzeichnete Dortmund jedenfalls zwei Abschlüsse, in der restlichen Spielzeit sechs (darunter ein Gegentor).

Obwohl ihm abermals kein Tor gelungen ist, bekam Jackson intern auch Anerkennung. "Nicolas war bemüht und hat immer wieder die Räume belaufen", befand Sportvorstand Max Eberl. Joshua Kimmich sagte: "Serge spielt zwar mehr mit. Aber mit Nico haben wir andere Möglichkeiten, weil er noch mehr in die Tiefe gehen kann." Kane selbst hatte Jackson bereits nach dem ersten gemeinsamen Auftritt als "tolle Ergänzung" bezeichnet, vor allem mit "seiner Geschwindigkeit und seinen Bewegungen" könne er "einen großen Impact für uns in dieser Saison haben". 

Das Münchner Offensivspiel hat zwei Gesichter, je nachdem ob der spielfreudige Gnabry oder der tiefenlaufende Jackson beginnt. Sofern alle fit bleiben, könnte sich das im Laufe der Saison noch als gefährliche Waffe erweisen. Vincent Kompany kann je nach Spielweise des Gegners individuell wählen. Seine Gegenüber müssen ihre Mannschaften derweil stets auf beide Optionen vorbereiten. Möglich ist all das selbstverständlich nur dank Kanes Flexibilität.

Nach eigener Auskunft befindet sich Kane aktuell in der "besten körperlichen Verfassung" seiner Karriere. Mit Blick auf sein Alter von 32 Jahren ist das höchst beachtlich. Aber dennoch wird Kane in den kommenden Jahren körperlich unweigerlich abbauen. Denkbar erscheint deshalb, dass er mittelfristig immer öfter aus einer tieferen Position agiert, wo die Endgeschwindigkeit nicht mehr so entscheidend ist.

Derartige Entwicklungen machten schon einige große Angreifer durch. Beispielsweise Wayne Rooney, den Kane als Rekordtorschütze der englischen Nationalmannschaft ablöste, spielte in der Endphase seiner Karriere meist im zentralen Mittelfeld.

Kanes Vertrag läuft 2027 aus. Eine Verlängerung erscheint wahrscheinlich, beide Seiten flirten bereits öffentlich miteinander. Auch wenn der Vorstandsvorsitzende Jan-Christian Dressen betont, dass es dafür aktuell noch "zu früh" sei. Sofern Kanes Transformation zum Mittelfeldspieler voranschreitet, müssen sich die Bosse des FC Bayern bald die Frage stellen: Braucht es zusätzlich einen neuen Topstürmer?

Letztlich einen Spielertypen wie Jackson, nur torgefährlicher. In seinen bisherigen 276 Einsatzminuten für den FC Bayern erzielte der 24-jährige Senegalese erst einen Treffer. Womöglich findet Jackson seine Torgefährlichkeit aber ja auch noch. Für Chelsea netzte er in 81 Spielen immerhin 30-mal. Im kommenden Sommer hat der FC Bayern eine Kaufoption über 65 Millionen Euro.