Lennart Karl hatte immer noch nicht genug. Das Spiel war längst abgepfiffen und die Mannschaft schon auf dem Weg in Richtung Südkurve, um mit den eigenen Fans den 4:0-Sieg gegen Club Brügge zu feiern. Da schnappte sich der 17-Jährige nochmal den Ball und versenkte ihn aus großer Distanz im leeren Tor. Eine kleine, unbedeutende Szene. Aber eine, die exemplarisch steht für seine Spielfreude und seine Gier nach Toren.
Getty ImagesEs entbrennt schon jetzt eine große Debatte! Ist Lennart Karl vom FC Bayern ein Kandidat für den deutschen WM-Kader?
Rund zwei Stunden zuvor hatte er es schon einmal gemacht. Karl bekam im Mittelfeld den Ball, zog sofort los in Richtung Tor, schüttelte seine Gegenspieler ab und traf dann von der Strafraumgrenze mit links traumhaft zum wegweisenden 1:0. Seine anschließende Erklärung war so einfach, wie sein Tor wirkte, aber nicht war: "Ich habe einfach geschossen, dann war er drinnen."
Einfach schießen, einfach machen, sich trauen, Mut haben statt Angst. Das sind Attribute, die ein großes Talent unterscheiden von einem großen Talent, das vielleicht auch eine große Karriere macht. Attribute, die Karl anschließend jeder attestierte, den man nach ihm fragte. Von Sportdirektor Christoph Freund über Trainer Vincent Kompany bis hin zu Torjäger Harry Kane. Am prägnantesten fasste es wohl Aleksandar Pavlovic zusammen, das letzte Eigengewächs, dem der Durchbruch beim FC Bayern gelungen ist: "Der hat einfach Eier."
Und was sagt Karl selbst? "Ich nehme meine Abschlüsse. Ich habe keine Angst vor Gegenspielern. Druck spüre ich eigentlich gar nicht." Offenbar machte er sich auch keinen Druck, nachdem ihm das Trainerteam vorab einen Torerfolg prognostiziert hatte. "Wir sind mit dem Trainer in der Kabine gesessen und haben gesagt: Wir haben das Gefühl, dass Lenny heute sein erstes Tor schießen wird", verriet Freund. "Dann habe ich es durchgezogen", erwiderte Karl. "Hat alles geklappt."
AFPLennart Karl wurde gegen Brügge als Spieler des Spiels ausgezeichnet
Sein Treffer hatte übrigens eine historische Dimension: Im Alter von 17 Jahren und 242 Tagen avancierte Karl zum jüngsten deutschen und Münchner Torschützen in der Königsklasse. Beide Bestmarken klaute er Jamal Musiala.
Weil eben dieser Musiala schon seit Monaten fehlt, weil nun auch noch Serge Gnabry ausfällt und weil Nicolas Jackson zuletzt nicht überzeugte, hatte Kompany Karl gegen Brügge etwas überraschend, mangels Alternativen aber auch etwas folgerichtig in die Startelf berufen. Zum bereits dritten Mal in dieser Saison (dazu kommen sechs Einwechslungen), aber zum ersten Mal in der Champions League.
Karl spielte nicht auf seinem angestammten rechten Flügel, sondern auf der Zehn. Er war der Mittelpunkt des Münchner Spiels, und zwar nicht nur wegen seiner Positionierung. Und auch nicht nur wegen seines Treffers. Hier ein Dribbling, dort ein Hackenpass, hier ein Lupfer und dort schon das nächste Dribbling. Dazu präsentierte er sich äußerst bissig im Spiel gegen den Ball. Die Auszeichnung zum Spieler des Spiels: höchst verdient.
In der 69. Minute wurde Karl schließlich unter Standing Ovations ausgewechselt. Und schon entbrannte eine große Debatte: Wäre das vielleicht sogar einer für die WM im kommenden Sommer? Also natürlich nur, sofern sich die deutsche Nationalmannschaft auch qualifiziert.
Lennart Karl spielte bisher maximal für die U17-Nationalmannschaft
"Es ist auf jeden Fall noch ein Weg für ihn zu gehen", sagte Kapitän Manuel Neuer. "Aber grundsätzlich steht ihm die Zukunft offen, diese Richtung einzuschlagen." Laut Kane habe Karl "noch ein bisschen Arbeit zu erledigen, um es zu dem Turnier zu schaffen. Aber wer weiß, er ist auf jeden Fall einer für die Zukunft. Wenn er ein bisschen mehr spielt bis dahin und wenn er so wie heute spielt, dann hat er eine Chance."
Bundestrainer Julian Nagelsmann ist bekannt dafür, jungen Talenten frühzeitig Chancen zu geben. Das womöglich beste Beispiel ist Aleksandar Pavlovic, er dürfte Karl als Vorbild dienen. Im Alter von 19 Jahren begann Pavlovic die Saison 2023/24 bei der viertklassigen Reserve des FC Bayern. Erst Ende Oktober debütierte er für die Profis, dann kämpfte er sich in die Startelf, schaffte es in den vorläufigen Kader für die Heim-EM und debütierte sogar bei einem Testspiel, verpasste das Turnier aber letztlich wegen einer Mandelentzündung.
Karl selbst will über eine mögliche WM-Teilnahme "noch nicht nachdenken. Ich muss erst einmal U20 und U21 spielen." Damit hätte er die U18 und U19 sogar übersprungen. Tatsächlich spielte Karl bisher maximal in der U17.
"Ich bin kein Fan von einem Hype, den er jetzt bekommen wird. Ich bin Fan von Ausbildung und Ruhe", sagte Kompany. Was er selbst denn mit 17 gemacht habe, wurde der Trainer noch gefragt - und er antwortete, nur um das alles mal in Relation zu setzen: "Champions League und Nationalmannschaft. Stammspieler."

