Anrie Chase, rising Stuttgart starGetty Images

"Eine verdammt fantastische Geschichte": Anrie Chase vom VfB Stuttgart begann erst mit zwölf Jahren mit dem Fußballspielen - heute tritt er in der Champions League gegen Kylian Mbappe an

"Auffällig" ist ein Wort, das Anrie Chase ziemlich gut beschreibt. Und das auf vielen Ebenen. Zum einen wäre da das imposante Erscheinungsbild des Senkrechtstarters vom VfB Stuttgart. Mit seiner schwarzen Lockenpracht sticht der 20-Jährige naturgemäß aus der Masse heraus. Dazu gesellt sich sein imposanter Körperbau. Der 1,88 Meter große Abwehrspieler ist ein echtes Kraftpaket und damit ein Albtraum für viele Kontrahenten.

Auffällig ist aber auch, welchen Werdegang er genommen hat. In Zeiten, in denen Karrieren quasi am Reißbrett geplant und in Jugendakademien umgesetzt werden, kommt Chase wie eine Anomalie daher. Erst mit zwölf Jahren begann er mit dem Fußballspielen, jetzt tritt er in der Champions League gegen Kylian Mbappe und Vinicius Junior an.

Mit dem Youngster hat der VfB ein besonderes Juwel in seinen Reihen und Chase muss womöglich schon bald eine wichtige Zukunftsentscheidung treffen.

  • stuttgart-anrie-chase-20241213©Taisei Iwamoto

    Anrie Chase wechselte 2022 zum VfB Stuttgart

    Der Sohn einer japanischen Mutter und eines amerikanischen Vaters verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in den USA. Er betrieb allerlei Sportarten, vor allem Basketball war angesagt. Als er zwölf Jahre alt war zog die Familie nach Japan und Chase entdeckte seine Liebe zum Fußball. "Ziemlich spät" sei das gewesen, wie sein heutiger Trainer Sebastian Hoeneß findet. Obwohl ihm viele Altersgenossen damals weit voraus waren, ließ sich Chase nicht entmutigen und nahm große Entwicklungsschritte.

    2022 war er 17 und bereits japanischer U23-Nationalspieler. Er entschied sich für den Schritt von der Shoshi High School nach Europa. "Der Hauptgrund war, dass ich in der J-League nicht sofort Spielzeit hätte bekommen können", schilderte er bei Sportiva.

    Er absolvierte mehrere Probetrainings, unter anderem in Alkmaar, und entschied sich am Ende für den VfB. Dort seien die Verantwortlichen "begeistert" von dem Eindruck gewesen, den der robuste Verteidiger hinterlassen habe, schrieb seinerzeit die japanische Zeitung Sponichi.

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    Nate Weiss über Anrie Chase: "Dieser Junge war besessen davon, besser zu werden"

    Beim VfB traf der ablösefreie Rohdiamant auf seinen wichtigsten Förderer: Entwicklungstrainer Nate Weiss, der heute beim FC Bayern am Campus arbeitet. Weiss ist gebürtiger US-Amerikaner und hatte sofort einen Draht zu Chase. Beide arbeiteten hart am Stil des jungen Abwehrmanns.

    Weiss verriet später bei Sky Sports, was ihn an seinem Ex-Schützling so beeindruckt habe: "Alle anderen Kinder hatten sieben Jahre mehr Erfahrung als er, aber dieser Junge war besessen davon, besser zu werden. Es gab nicht einen Moment, in dem er nicht trainieren wollte. Und wenn ich nicht in der Nähe war, ging er von alleine raus."

    Der Schritt nach Stuttgart war groß und führte unvermeidlich auch zu Problemen. "Am Anfang haben die anderen Spieler ihn angeschrien, weil er nicht gut genug war", so Weiss. "Sie haben buchstäblich geschrien, weil er ständig Fehlpässe spielte und ständig unter Druck stand. Er war nicht gut. Schließlich fing er an aufzuholen... Ich habe die Entwicklung live miterlebt. Wenn ich zurückblicke, bekomme ich eine Gänsehaut."

  • FBL-EUR-C1-REAL MADRID-STUTTGARTAFP

    Anrie Chase spielte schon gegen Juventus, Real und Atalanta

    Besagte Entwicklung bekam nicht nur Weiss mit, sondern irgendwann auch VfB-Cheftrainer Hoeneß. Nach Einsätzen in der Jugend und der Reserve debütierte Chase am ersten Spieltag dieser Saison beim 1:3 gegen Freiburg für die Profis in der Bundesliga. Mittlerweile steht er bei 18 Einsätzen, drei davon in der Champions League gegen Juventus, Real Madrid und Atalanta Bergamo.

    Wie angedeutet profitiert Chase auf dem Platz von seiner umwerfenden Physis. Er ist stark, schnell und trotzdem wendig. Dazu verfügt über ein ordentliches Passspiel. Förderer Weiss nennt außerdem Chases Zweikampf- und Kopfballspiel "eine Waffe".

    Sein größter Pluspunkt ist laut Weiss aber die Einstellung. "Wenn man einem Spieler sagt, er soll 100 Meter so schnell wie möglich laufen, verstehen die meisten Spieler, was das bedeutet", sagte er. "Wenn man sie aber bittet, sich bei der nächsten Ballbesitzübung dreieinhalb Minuten lang zu konzentrieren, wissen sie nicht wirklich, was es heißt, auch dabei 100 Prozent zu geben. Er hat verstanden, wie man sich konzentriert, wie man sich erholt, wie man das alles macht." Chase verwende er mittlerweile als "Beispiel" in seinen Einheiten: "Das sind diejenigen, die es schaffen."

  • Anrie-ChaseGetty Images

    Bald einer der Besten? Chase hat noch Nachholbedarf

    Technisch besteht weiter Nachholbedarf. Für Weiss ist aber entscheidender, und das gelte für alle Talente, dass man sich klarmacht, was man kann und was nicht. Chase habe das begriffen. "Viele Spieler wollen heute der Innenverteidiger sein, der dribbeln kann wie Neymar", sagt Weiss. "Sie wollen in allem Weltklasse sein. Aber wenn man sich als junger Spieler darauf konzentriert, ein oder zwei Dinge auf Weltklasseniveau zu tun, hat man eine Chance, es bis an die Spitze zu schaffen."

    Bis an die Spitze ist es noch weit, aber Chase ist gerade dabei in Stuttgart seinen Durchbruch zu feiern. Anschauungsunterricht hat er dabei nach eigenen Angaben in England genommen. Bei J Sports erzählte er über seine Zeit in Japan: "Ich habe mir die J-League und auch den Fußball in Übersee angesehen. Um meinen Fußball-IQ zu erhöhen, habe ich meine Lieblings-Innenverteidiger genau beobachtet und gelernt, wie sie sich bewegen." Vor allem Virgil van Dijk vom FC Liverpool sei dabei ein Vorbild gewesen: "Er ist gut im Kopfballspiel, er verliert keine Eins-gegen-Eins-Situationen, er kann lange Pässe spielen, alles an ihm ist großartig. Ich schaue mir viele Spiele der Premier League an."

  • Borussia Mönchengladbach v VfB Stuttgart - BundesligaGetty Images Sport

    Anrie Chase: Japan oder USA?

    Seine Leistungen in den letzten Monaten machen ihn natürlich auch für Nationalmannschaften interessant. Hier könnte Chase irgendwann die Qual der Wahl haben. Für Japan lief er in der U20 und U23 bereits auf, allerdings wäre er auch für die USA einsatzberechtigt. Bei Social Media sind bereits zarte Kampagnen gestartet, den Defensivspieler für eine Länderspielkarriere im US-Team des neuen Trainers Mauricio Pochettino zu begeistern.

    Chase lässt sich in dieser Frage alle Möglichkeiten offen. Er fühle sich "geschmeichelt von all den Berichten", stellte aber auch klar, er wolle den Dingen erstmal "ihren natürlichen Lauf lassen". Und überhaupt: "Ich habe immer noch das Gefühl, dass es für mich ein bisschen weit weg ist, für eine Nationalmannschaft zu spielen."

    Ob und wann es einmal für eine A-Nationalelf reicht, ist offen. Sicher ist dagegen, dass es einen Werdegang wie jenen von Chase so nicht noch einmal gibt. Oder wie es Nate Weiss sagte: "Hier war ein Junge, der mit einem leeren Blatt Papier im Alter von zwölf Jahren begann. Mit 20 Jahren spielt er in der Champions League. Ich denke, das ist eine verdammt fantastische Geschichte."

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