Während in den meisten europäischen Ligen die Entscheidungen im Meisterschaftskampf am vergangenen Wochenende fielen oder – wie im Falle der Ligue 1 und Paris Saint-Germain – schon seit einigen Wochen feststeht, welches Team sich zum nationalen Meister gekrönt hat, ist der Scudetto in der italienischen Serie A noch nicht vergeben. Mit der SSC Neapel und Inter Mailand haben am letzten Spieltag noch zwei Mannschaften die Chance, die begehrte Trophäe an sich zu reißen. Die Ausgangssituation könnte dabei kaum spannender sein. Die Süditaliener gehen mit einem einzigen Zähler Vorsprung in das Duell, was vor allem den dramatischen Ereignissen am vorangegangenen Spieltag geschuldet ist.
Imago Images"Die wussten, was sie da für eine Chance vertan haben": Inter Mailand und die SSC Neapel liefern sich einen historischen Kampf um die Meisterschaft
Dort sah Neapel eigentlich lange wie der große Verlierer aus, schließlich kam die Mannschaft von Trainer Antonio Conte nicht über ein torloses Unentschieden gegen Kellerkind Parma Calcio hinaus. In der Nachspielzeit gerieten der ehemalige Coach der italienischen Nationalmannschaft und sein Gegenüber Christian Chivu derart aneinander, dass Schiedsrichter Daniele Doveri sie beide mit Rot auf die Tribüne verbannte. Darüber hinaus wurde ein zunächst gepfiffener Foulelfmeter für die Napoli vom VAR einkassiert.
Zuvor hatten die Gli Azzurri zahlreichen Chancen nicht genutzt und bei gleich drei Aluminiumtreffern großes Pech gehabt. Zambo Anuguissa scheiterte nach einer überragenden Einzelaktion am Innenpfosten (33. Minute), nach gut einer Stunde landete ein abgefälschter Schuss von Matteo Politano auf der Latte und auch ein Freistoß von Scott McTominay klatschte ans Aluminium. Parmas Torwart Zion Suzuki hatte noch die Finger an den Ball bekommen.
Im Parallelspiel gegen Lazio Rom hingegen lag Inter durch einen Treffer des gebürtigen Kölners Yann Aurel Bisseck lange mit 1:0 in Führung. Nach dem Ausgleich von Pedro rund 20 Minuten vor dem Spielende schlugen die Nerazzurri in Person von Denzel Dumfries schnell zurück – der Niederländer drückte eine Freistoßflanke von Hakan Calhanoglu über die Linie.
Als jedoch bereits alles danach aussah, als würden die Mailänder vor dem finalen Spieltag die Führung in der Tabelle zurückerobern, überschlugen sich die Ereignisse im Giuseppe-Meazza-Stadion. Wenige Minuten vor dem Abpfiff berührte Bisseck im eigenen Strafraum den Ball aktiv mit dem Ellenbogen, nach Ansicht der Videobilder gab es Elfmeter für Lazio. Pedro schnürte den Doppelpack und traf präzise ins linke Eck. Inter hatte mit der letzten Aktion dann sogar noch die Chance auf die erneute Führung, doch Ex-Bremer Marko Arnautovic stand bei seinem Kopfball deutlich im Abseits.
Getty Images SportNeapel verkraftet Abgänge von Osimhen und Kvaratskhelia
In gewisser Weise bildete das vergangene Wochenende auch das grundsätzliche Bild des Meisterschaftskampfes in diesem Jahr ab. Vor allem in den letzten Wochen ging es oft hin und her, kein Team konnte sich entscheidend vom anderen absetzen und die teilweise eklatanten Patzer der Konkurrenz nutzen. Über weite Strecken der Saison lag Neapel in der Tabelle zwar vor den Mailändern, verpasste es aber in den wichtigen Momenten, selbst abzuliefern.
Ein Lob muss man Contes Mannschaft dennoch aussprechen. Mit Sicherheit hätten nur die Wenigsten zu Beginn des Jahres damit gerechnet, dass de Süditaliener am letzten Spieltag die Meisterschaft in den eigenen Händen haben. Zu Schwer wiegten die Abgänge von Ausnahmespielern wie Victor Osimhen (per Leihe zu Galatasaray Istanbul) vor der Saison oder Khvicha Kvaratskhelia (für 70 Millionen Euro zu Paris Saint-Germain) ein halbes Jahr später im Winter.
Doch die Bosse um Conte und Präsident Aurelio De Laurentiis hatten von Anfang an einen klaren Plan, den sie mit vergleichsweise günstigen, aber äußerst klugen Transfers in die Tat umsetzten. So kamen unter anderem Innenverteidiger Alessandro Buongiorno (für 35 Millionen Euro vom FC Turin), Scott McTominay (für 30 Millionen Euro von Manchester United), Romelu Lukau (für 30 Millionen Euro vom FC Chelsea) und David Neres (für 28 Millionen Euro von Benfica) und nahmen in Contes System direkt tragende Rollen ein.
Getty Images SportInter lässt nach englischen Wochen in der Liga federn
"De Laurentis hat da auch Geld in die Hand genommen. Conte hatte konkrete Wünsche, die ihm allesamt erfüllt wurden", erklärt Serie-A-Experte Christian Bernhardt bei GOAL. "Klar, sie haben Osimhen und Kvaratskhelia verloren, aber auch einige gute Spieler dazubekommen. Mit Buongiorno einen der hoffnungsvollsten italienischen Innenverteidiger, zudem McTominay, an dessen Zahlen man ablesen kann, wie wichtig er ist, und natürlich Lukaku, der der perfekt zum Conte-Spiel passt und wo man direkt wusste, dass er funktionieren wird." Auch Neres, der "nach dem Abgang von Kvaratskhelia dessen Rolle eingenommen hat", harmoniert wunderbar im Gesamtgefüge.
Gleichzeitig spielte auch die beinahe gänzliche Abwesenheit von englischen Wochen Napoli in die Karten. "Sie konnten sich die ganze Saison lang komplett auf die Liga konzentrieren. Inter hat international den weitestmöglichen Weg genommen und wird am Ende der Saison 18 Spiele mehr bestritten haben als Napoli, die seit August eigentlich immer volle Trainingswochen ohne Doppelbelastung und englische Wochen hatte", so Bernhardt.
Knackpunkt sei vor allem der zurückliegende April gewesen, als Inter in der Liga gegen Bologna und die Roma patzte. "Da hatte Inter vier englische Wochen, also sprich jede Aprilwoche haben sie unter der Woche gespielt." Zunächst ging es in der Champions League zweimal gegen die Bayern, im Anschluss musste man in Hin- und Rückspiel des Coppa-Italia-Halbfinals gegen Stadtrivale Milan ran: "Da reden wir nicht nur über die physische Belastung im Gegensatz zu Napoli, die immer nur Samstags oder Sonntags gespielt haben, sondern auch die mentale Energie. Nach solchen großen, knappen Spielen unter der Woche ist es oftmals nicht so einfach am Wochenende wieder voll da zu sein und jedes Ligaspiel zu gewinnen."
Getty ImagesNeapel ganz anders als noch 2023 - und dennoch erfolgreich
Und auch Conte selbst hatte einen nicht zu kleinen Anteil am Höhenflug der Gli Azzurri. Schon bei seinen vorherigen Stationen in Turin oder London konnte man erkennen, dass er eine Mannschaft schnell auf seine Vorstellung, Fußball zu spielen, trimmen kann. "Conte hat die ihm zur Verfügung stehende Zeit sehr, sehr gut genutzt. Die guten Neuen, die er dazu bekommen hat plus seine Qualität als Trainer haben den Ausschlag gegeben. Er hat es geschafft, alles so zusammenzuführen, dass man es am 38. Spieltag selbst in der Hand hat", meint Bernhardt, der dem 55-Jährigen auch eine gewisse taktische Weiterentwicklung attestiert: "Am Anfang hat er noch viel mit Dreier- bzw. Fünferkette und dem Motto Safety First gespielt und geschaut, was nach vorne geht. Aber er ist früh weg von diesem Weg, hat auf ein 4-3-3 oder 4-2-3-1 umgestellt und damit einen aktiveren und dominanteren Ansatz gewählt."
So ist die Spielweise im Vergleich zum letzten Scudetto-Gewinn von 2023 zwar nun eine komplett andere – eher weg vom offensiven Kombinationsfußball unter Luciano Spalletti und dafür hin zu einem ergebnisorientierterem Ansatz, unterm Strich aber muss man vor Conte den Hut ziehen. "Über die ganze Saison hinweg hat er da gut gemanagt. Er hat mit dem Material, was er zur Verfügung hatte, wobei der Inter-Kader in der Tiefe natürlich deutlich besser besetzt ist, eine überragend große Leistung abgeliefert", findet Bernhardt.
Und Inter? Dort wird man sich vor allem vorwerfen lassen müssen, im Falle einer Niederlage die Steilvorlage Neapels am letzten Wochenende nicht genutzt zu haben. "Das war dramatisch. Wenn man sich auf die Suche nach Punkten macht, die man während einer Saison zu leichtfertig verloren hat, dann wird das eines dieser Spiele sein. Bis zur 88. Minute war man Tabellenführer und Favorit auf den Titel. Das hat man den Spielern auch angesehen. Die wussten, was sie da für eine Chance vertan haben", so Bernhardt.
Getty ImagesInter vs. Napoli: Kommt es zum Entscheidungsspiel?
Beim Blick nun auf den kommenden Freitag, wenn beide Teams parallel im Fernduell um den Scudetto antreten, scheint die Frage nach einem Favoriten daher leicht beantwortet. Mit einem Sieg ist Neapel definitiv Meister – vor eigenem Publikum gegen ein Cagliari Calcio, für das es um nichts mehr geht, scheint das Bier für die Party bereits kaltgestellt. Doch es wäre eben auch nicht der diesjährige italienische Meisterschaftskampf, wenn am letzten Spieltag nicht noch etwas Unvorhersehbares passieren würde. "Man hat mit Parma und Genua gegen zwei vermeintlich leichte Gegner bereits Punkte liegen lassen. Das zeigt schon ein wenig, dass es da Kopfkino gibt. Sie wissen, dass sie Großes schaffen können. Das kann einen hemmen", meint Bernhardt.
Ein aus neutraler Sicht ohnehin schon spektakulärer Meisterschaftskampf könnte dann sogar ein historischer werden. Denn sollte die SSC Neapel ihre Partie gegen Cagliari verlieren und Inter bei Como Calcio unentschieden spielen, hätten die beiden Anwärter je 79 Punkte auf dem Konto. Es käme, aufgrund einer im Jahr 2022 von italienischen Verband eingeführten Sonderregel, nach der zwei nach dem letzten Spieltag punktgleiche Teams ein Entscheidungsspiel austragen müssen, dann zu einem direkten Aufeinandertreffen in einem alles entscheidenden Do-or-die-Spiel. Oder, um es mit den Worten von Trainer-Legende Fabio Capello zu sagen: "Das ist keine Meisterschaft, sondern ein Kriminalroman."



