GFX Massimiliano Allegri Thiago Motta JuventusGetty Images

"Dass Thiago Motta so etwas sagt, hat mich sehr überrascht": Juventus hat das Sieger-Gen verloren - und leidet unter einer seltenen Krankheit

"Gewinnen ist nicht wichtig. Es ist das Einzige, was zählt." Das legendäre Zitat des ehemaligen Kapitäns und langjährigen Präsidenten Giampiero Boniperti ist das inoffizielle Klub-Motto beim italienischen Rekordmeister Juventus. In der aktuellen Saison ist Juve von der Umsetzung dieses Leitmotivs jedoch so weit entfernt wie schon lange nicht mehr. "Nicht verlieren ist das Einzige, was zählt", träfe es angesichts der aktuellen Lage schon eher.

Die Bilanz des einstigen Serienmeisters (neun Titel zwischen 2011 und 2020) ist geradezu grotesk: Neben dem souveränen Ligue-1-Spitzenreiter PSG sind die Bianconeri als einziges Team in Europas Top-fünf-Ligen noch immer ungeschlagen. Doch von 20 Ligaspielen hat das Team von Trainer Thiago Motta gerade einmal sieben gewonnen. Bereits 13 (!) Partien endeten Unentschieden, auch das ist aktuell einsame Spitze in Europa.

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    In Turin ist die Unentschieden-Krankheit ausgebrochen

    Das Stadtderby beim FC Torino am Samstagabend endete mal wieder mit einer Punkteteilung und so ging es auch am Dienstagabend gegen Atalanta Bergamo weiter. Die jüngste Bilanz: Sechs Remis in den vergangenen sieben Ligaspielen.

    Schon seit Wochen ist in italienischen Zeitungen die Rede davon, der Patient Juve leide an einer schwer heilbaren Krankheit namens pareggite – übersetzbar etwa mit "Unentschiederitis" oder "Remis-Virus". Die Folge: Aktuell ist der Rekordmeister mit 34 Punkten nur Tabellenfünfter. An den Gewinn des Scudetto ist kaum noch zu denken, der Rückstand auf Spitzenreiter Napoli beträgt schon 13 Zähler. Auch die zweit- und drittplatzierten Inter Mailand (43, zwei Spiele weniger als Juve) und Atalanta Bergamo (43) sind in weite Ferne gerückt - und wenn es so weitergeht, wird es selbst mit der Qualifikation für die Champions League eng. "Das ist nicht mehr Juve", urteilte die Turiner Sportzeitung Tuttosport am Samstag.

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    Thiago Motta sollte Erfolg und schönen Fußball bringen

    Dabei sollte im Sommer eigentlich alles besser werden. Nach der Entlassung des wegen seines Defensivfußballs von Fans und TV-Experten heftig kritisierten Massimiliano Allegri (57) waren die Hoffnungen in den neuen Mister, Thiago Motta (42) vom Überraschungsteam FC Bologna, groß.

    Mit der Verpflichtung des jungen Trainers, der Bologna sensationell in die Champions League geführt hatte, verband sich die Hoffnung auf eine Revolution. Der gebürtige Brasilianer und 30-malige italienische Nationalspieler sollte gleich zwei Dinge nach Turin bringen, die es in der Vergangenheit keineswegs immer gemeinsam gab: sportlichen Erfolg und schönen Fußball.

    Um diese Revolution voranzutreiben, war Sportdirektor Cristiano Giuntoli, dank klugen Transfers bei seinem Ex-Klub Napoli mit einem guten Ruf ausgestattet, auf dem Transfermarkt sehr aktiv. Allein für die drei Mittelfeldspieler Teun Koopmeiners (von Atalanta, 54 Millionen), Douglas Luiz (Aston Villa, 51 Millionen) und Khéphren Thuram (OGC Nizza, 20 Millionen) gab Juve über 120 Millionen Euro an Ablösen aus.

    Hinzu kamen Verstärkungen auf den Flügeln (Francisco Conceicao/FC Porto, Leihgebühr 7 Millionen; Nico González/Fiorentina, Leihgebühr 8 Millionen), in der Abwehr (Pierre Kalulu/AC Mailand, Leihgebühr 3 Millionen; Juan Cabal/Verona, 12 Millionen) und auch im Tor (Michele Di Gregorio/AC Monza, Leihgebühr 4,5 Millionen).

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    Nach ordentlichem Start zeigt der Juventus-Trend nach unten

    Der Saisonstart des neu zusammengestellten Teams verlief recht ordentlich, Juve kassierte in den ersten sechs Ligaspielen kein einziges Gegentor. Das eine oder andere Remis zu viel galt zunächst noch als verschmerzbar. Es gab auch ein paar Highlights in der Champions League, etwa den 3:2-Sieg in Unterzahl bei RB Leipzig oder den 2:0-Erfolg gegen Manchester City. Schon seit längerem zeigt der Trend aber eindeutig nach unten.

    In der Supercoppa, die in Italien durchaus einen gewissen Stellenwert besitzt,setzte es vor gut einer Woche eine besonders bittere Enttäuschung – und diesmal ausnahmsweise sogar eine Niederlage. Juve gab beim 1:2 im Halbfinale gegen Milan eine 1:0-Führung binnen weniger Minuten aus der Hand. Erst verursachte Manuel Locatelli einen ziemlich unnötigen Foulelfmeter, dann erzielte Federico Gatti ein Slapstick-Eigentor, bei dem Keeper Di Gregorio alles andere als gut aussah.

    Während Mottas Befürworter sagen, das Etablieren eines neuen Spielstils brauche eben eine gewisse Zeit, trauert der eine oder andere Fan so langsam doch Pragmatiker Allegri und dessen 1:0-Siegen hinterher. Der hatte in der Vorsaison immerhin die Coppa Italia gewonnen, durch einen – natürlich – 1:0-Erfolg im Finale gegen Atalanta. Und zumindest in der Hinrunde hatte Allegris Juve, am Ende Dritter, mit dem späteren Meister Inter Schritt halten können - nicht mit teuren Einkäufen, sondern mit No-Names wie Fabio Miretti, Hans Nicolussi Caviglia oder Samuel Iling-Junior. Juve hat in der Serie A aktuell bereits 13 Punkte weniger geholt als zum gleichen Zeitpunkt unter der Leitung Allegris in der vergangenen Saison.

    Erschwerend kommt hinzu, dass auch der Spielstil – von Ausnahmen wie dem 3:2-Sieg gegen RB Leipzig oder einem 4:4-Spektakel gegen Inter abgesehen – nicht gerade spektakulär ist. Zwar hat sich Juves durchschnittlicher Ballbesitzanteil erhöht und auch einige Spieler haben einen Schritt nach vorne gemacht, etwa der Ex-Münchner Kenan Yildiz, der junge Rechtsverteidiger Nicolò Savona oder Dribbelkünstler Conceicao. Viele Spiele aber sind weiterhin nicht schön anzusehen, und die Mannschaft vermittelt einen alles andere als stabilen Eindruck. Vorne wirkt Juve oft abhängig von Einzelaktionen, hinten fehlt seit dem Kreuzbandriss von Innenverteidiger Bremer im Oktober die Stabilität.

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    Tacchinardi: "Dass Thiago Motta so etwas sagt, hat mich sehr überrascht"

    Angreifbar machte sich der neue Trainer auch mit einer Aussage vor dem verlorenen Supercup-Spiel gegen Milan, als er sagte: "Ich will gewinnen, aber ich bin davon nicht besessen." Ehemalige Juve-Größen wie Alessio Tacchinardi oder Ciro Ferrara kritisierten ihn anschließend dafür, er habe nicht verstanden, worum es bei Juventus gehe. Tacchinardi sagte bei Mediaset: "Meine Mitspieler und ich waren früher sogar besessen davon, die Trainingsspiele zu gewinnen. Dass Thiago Motta so etwas sagt, hat mich sehr überrascht."

    Ferrara betonte gegenüber der Turiner Zeitung Tuttosport: "An meinem ersten Tag bei Juve habe ich den Satz gehört: 'Wir müssen gewinnen.' Das ist Teil der Geschichte und der DNA von Juventus."

    Noch schlimmer machte es Motta nach dem Derby, bei dem er obendrein wegen einer Rangelei mit Torino-Trainer Paolo Vanoli vom Platz gestellt wurde. Der junge Trainer versuchte zu beschwichtigen: "Wir haben immerhin von 27 Spielen nur zwei verloren (neben dem Supercup auch in der Champions League gegen den VfB Stuttgart, Anm. d.Red.). Und das mit einer jungen Mannschaft und vielen Verletzten." Nicht die Sätze, die sich erfolgsverwöhnte Tifosi wünschen.

    Auch für seine Wechsel – im Supercup-Halbfinale gegen Milan nahm Motta etwa beim Stand von 1:0 den einzigen Stürmer Vlahovic und den bis dahin starken Samuel Mbangula vom Feld – musste sich der ehemalige Inter-Profi einige Kritik anhören, ebenso wie für sein Festhalten am 4-2-3-1-System.

    Böse Zungen vergleichen ihn schon mit Gigi Maifredi. Der kam 1990 ebenfalls aus Bologna nach Turin und sprach von "Champagner-Fußball" – am Ende beendete er die Saison auf Platz sieben und wurde nach nur einer Spielzeit entlassen.

  • France v Israel - UEFA Nations League 2024/25 League A Group A2Getty Images Sport

    Löst ein Ex-Bundesliga-Profi Juventus' Sturmproblem?

    So weit ist es noch nicht. Der Trainer genießt augenscheinlich das volle Vertrauen von Sportdirektor Giuntoli und soll weiter Zeit bekommen, den neuen Ballbesitzfußball zu etablieren. Dafür wird der Kader wohl schon im Winter erneut verstärkt . Vor allem im Sturm sehen die Verantwortlichen Bedarf, denn Top-Verdiener Vlahovic konnte die hohen Erwartungen seit seiner teuren Verpflichtung für rund 80 Millionen Euro im Januar 2022 nie konstant erfüllen. Hieß es in der Vorsaison noch, Allegri sei mit seiner Defensiv-Taktik schuld an dessen ausbleibender Leistungsexplosion, gilt er nun als technisch nicht gut genug für Mottas spielerischen Ansatz. Sein Vertrag läuft 2026 aus und Juve möchte zu den selben Konditionen nicht verlängern, daher könnte der 24-jährige Angreifer im Sommer verkauft werden.

    Unabhängig vom Verbleib des Serben muss vorne aber schon jetzt dringend eine Alternative her, denn der einzige weitere Mittelstürmer im Kader, der Ex-Leverkusener Arkadiusz Milik, ist seit Monaten verletzt. Gegen Torino musste der Ex-Stuttgarter Nico González den ebenfalls angeschlagenen Vlahovic im Sturmzentrum vertreten. Nach Gerüchten um den ehemaligen Bayern-Profi Joshua Zirkzee, einst unter Motta in Bologna in Top-Form, und um den deutschen Nationalstürmer Niclas Füllkrug steht eine Leihe des bei PSG aussortierten Ex-Frankfurters Kolo Muani laut übereinstimmender Berichte kurz bevor..

    Auch in der Abwehr soll mindestens ein Neuer kommen, Wunschkandidat Ronald Araujo soll dabei aber eine Kehrtwende hingelegt und sich für einen Verbleib in Barcelona entschieden haben.

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    Keine "Senatoren" und schon sechs verschiedene Kapitäne

    Ob allerdings diese Transfers ausreichen werden, damit die Mannschaft wieder in die Spur findet, bleibt abzuwarten. Über einen talentierten Kader mit einigen interessanten Spielern verfügt Juve durchaus. Doch dem Klub scheint in den vergangenen Jahren tatsächlich ein wenig die viel zitierte Sieger-Mentalität abhanden gekommen zu sein.

    Auf dem Platz herrscht ein Führungsvakuum, Akteure wie Locatelli, Gatti oder Neuzugang Koopmeiners sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt und etablierte Kräfte wie der nominelle Kapitän Danilo (aktuell aus dem Kader gestrichen) und Wojciech Szczęsny (inzwischen Ersatzkeeper beim FC Barcelona) wurden von Motta aussortiert.

    Früher hatte Juve stets ein paar "Senatoren", wie man die erfahrenen Führungsspieler in Italien nennt, im Kader. Namen wie Gianluigi Buffon oder Giorgio Chiellini, die jahrelang den Verein verkörperten und den jungen Spielern als Beispiel dienten, sucht man im Moment allerdings vergeblich. Selbst wer die Kapitänsbinde trägt, legt Motta von Spiel zu Spiel neu fest. Neuzugang Koopmeiners war am Samstag bereits der sechste Juve-Kapitän in der laufenden Saison.

  • Italy v Albania: Group B - UEFA EURO 2024Getty Images Sport

    Die Vereinsführung ist unsichtbar

    Ein Führungsvakuum herrscht derweils auch in der Chef-Etage. Bereits 2018 ließ Juve ohne Not den erfolgreichen Sportdirektor Giuseppe Marotta ziehen, seitdem baute dieser Inter mit vielen cleveren Transfers zum Spitzenteam auf und ist dort inzwischen sogar Präsident. Im gleichen Jahr verhob sich der Rekordmeister mit dem Transfer von Cristiano Ronaldo, geriet in der Folge in finanzielle Schwierigkeiten und legte sich wegen der Super League mit der UEFA an. Im Zuge eines Skandals um offenbar geschönte Bilanzen trat Ende 2022 dann der komplette Vorstand um Präsident Andrea Agnelli und Vize-Präsident Pavel Nedved zurück.

    Seitdem gilt Agnellis Cousin John Elkann als starker Mann bei Juve. Er scheint aber als Chef des Automobilriesen Stellantis und seit kurzem auch Teil des Aufsichtsrats von Meta andere Prioritäten als den seit über 100 Jahren im Familienbesitz befindlichen Fußballverein zu haben. Auch seine Vertrauten, Präsident Gianluca Ferrero und Generaldirektor Maurizio Scanavino treten öffentlich kaum in Erscheinung – ebenso wenig wie Sportdirektor Giuntoli, der in Neapel stets im Hintergrund agierte und dort meist Präsident Aurelio De Laurentiis das Reden überließ.

    Mit Giorgio Chiellini ist zwar eine Vereinslegende seit kurzem als Head of Football Institutional Relations Teil des Klubs, um ihn ist es bisher aber ebenfalls sehr ruhig. Auf eine Rückkehr der wohl größten aller Vereins-Ikonen, Rekordspieler und Rekordtorschütze Alessandro Del Piero, warten die Fans seit dessen Abschied 2012 vergeblich.

  • Juventus FC v Cagliari Calcio - Coppa ItaliaGetty Images Sport

    Nun warten Atalanta, Milan und Napoli

    Unabhängig davon, ob es Juve mittelfristig gelingt, wieder mehr Fußball-Kompetenz in die Klubführung zu bringen, geht es zunächst aber um den kurzfristigen Erfolg. Da muss die Mannschaft in den nächsten Spielen gegen schwere Gegner die Wende schaffen.

    In der Serie A warten nun Milan (Samstag, 18 Uhr) und Napoli (25. Januar). Nach zwei vermeintlich einfacheren Aufgaben (Empoli, Como) folgt Mitte Februar das Rückspiel gegen Meister Inter Mailand. Auch international entscheidet sich gegen Brügge (21. Januar) und Benfica (29. Januar) das Weiterkommen des aktuellen 14. der CL-Tabelle.

    Findet Motta in den nächsten Wochen kein Heilmittel für die Unentschieden-Krankheit, dürfte es für ihn langsam ungemütlich werden. Dann könnte die Revolution enden, bevor sie so richtig begonnen hat.

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