Genau 14 Monate ist es her, dass Bundestrainer Julian Nagelsmann direkt nach dem so unglücklichen EM-Aus gegen Spanien den WM-Titel 2026 als Ziel ausgerufen hat. Wohl kein Satz von ihm wurde seitdem öfter zitiert. Und das soll was heißen, Nagelsmann redet schließlich viel.
IMAGO / SchülerSchon das EM-Viertelfinale gegen Spanien war ein Vorbote! Julian Nagelsmann hat einen großen Anteil am Abwärtstrend des DFB-Teams
Damals galt seine forsche Ansage zwar als mutig, aber auch als durchaus stimmig. Deutschland hatte schließlich nur haarscharf gegen den angehenden Europameister verloren. Nach vielen Jahren der Dunkelheit entfachte die Nationalmannschaft bei der EM eine neue Euphorie, mit der Zielsetzung WM-Titel wollte sie Nagelsmann erhalten. Spätestens nach dem missratenen Auftakt in die WM-Qualifikation ist sie aber erloschen, seine Ansage erscheint völlig unrealistisch.
Bei der desaströsen 0:2-Pleite gegen die Slowakei fehlte es dem DFB-Team an spielerischen Ideen, an defensiver Stabilität und an den Grundtugenden, an Wille und Leidenschaft. Kurz: Es fehlte an allem. Nagelsmanns Mannschaft hat nur eines der vergangenen sechs Spiele gewonnen und zuletzt dreimal hintereinander verloren. Durch die hohe Teilnehmerzahl und die Playoffs ist die WM-Teilnahme zwar noch nicht ernsthaft in Gefahr. Aber mit dem Titel wird Deutschland in dieser Verfassung nichts zu tun haben.
Gedreht hat sich in den vergangenen 14 Monaten aber nicht nur die Sicht auf Nagelsmanns Ansage. Mitgedreht hat sich auch die Sicht auf seine Arbeit als Bundestrainer. So groß Nagelsmanns Anteil an der erfreulichen EM war, so groß ist sein Anteil am aktuellen Abwärtstrend.
AFPDFB-Team: Julian Nagelsmanns Hang zu Experimenten
Nagelsmann ist ein extrem mutiger Trainer. Das zeigte sich schon daran, dass er im Herbst 2023 lieber eine vermeintlich hoffnungslose Nationalmannschaft übernahm statt einen internationalen Topklub. Auf Pressekonferenzen sagt er lieber einen flotten Satz zu viel als zu wenig. Personell und taktisch lieber ein Experiment zu viel als eines zu wenig. Dadurch polarisiert er wie wenige andere Trainer. Gewinner oder Verlierer, Held oder Depp.
Bei der Europameisterschaft lohnte sich Nagelsmanns Mut, seine Maßnahmen gingen voll auf. Er verzichtete auf Routiniers wie Leon Goretzka und Mats Hummels, setzte dafür auf unerfahrenere Nationalspieler wie Robert Andrich und Maximilian MIttelstädt, beorderte Joshua Kimmich gegen seinen Willen aus der Mittelfeldzentrale nach rechts hinten, überredete Toni Kroos zu einem Comeback. Viel gewagt, viel gewonnen.
Nach dem noch erfolgreichen Nations-League-Herbst 2024 verlor Nagelsmann aber sein glückliches Händchen, zuletzt mehrten sich seine Fehleinschätzungen bedenklich. Ein erster Vorbote dessen war tatsächlich schon das EM-Viertelfinale gegen Spanien, als der Bundestrainer unerklärlicherweise Emre Can und Leroy Sane in die Startelf beorderte - was er mit einem Doppelwechsel in der Halbzeit korrigierte.
Anders als bei der EM ist mittlerweile taktisch und personell keine Linie mehr zu erkennen, das Gesicht der EM ist verschwunden. Sowohl beim Viertelfinal-Rückspiel der Nations League gegen Italien als auch beim Halbfinale gegen Portugal verunsicherte Nagelsmann seine Mannschaft zudem bei Führungen mit überflüssigen Dreifach-Wechseln. Prompt folgten Gegentore, am Ende standen ein Remis und eine Pleite. Verletzungsprobleme kommen erschwerend dazu: Mit Marc-Andre ter Stegen, Nico Schlotterbeck, Jamal Musiala, Kai Havertz und Tim Kleindienst fehlen aktuell gleich fünf realistische Startelf-Kandidaten.
Nagelsmann machte eine seiner klügsten Entscheidungen rückgängig
Womöglich aber auch aus Panik wegen des schwachen Abschneidens beim Final Four der Nations League sah sich Nagelsmann in der langen Sommerpause wieder zu gröberen Umstellungen genötigt - und machte dabei eine seiner klügsten Entscheidungen rückgängig: Kimmich kehrte ins Mittelfeld zurück. Dorthin also, wo es anders als rechts hinten bewährte Alternativen gibt.
Obwohl Nagelsmann wieder mit einem 4-2-3-1-System plant, nominierte er für die aktuelle Länderspielphase nur einen Rechtsverteidiger: den 21-jährigen Neuling Nnamdi Collins. Gegen die Slowakei stand er direkt in der Startelf und erlebte ein verheerendes Debüt. Was auch an Nagelsmanns System lag.
Weil die beiden Außenverteidiger bei Ballbesitz ungewohnt hoch schoben, entstanden im Rückwärtsgang riesige Freiräume. Vor allem Collins fehlte dabei die Orientierung. Nach einer desolaten Halbzeit wechselte ihn Nagelsmann zur Pause aus, brachte mit David Raum einen weiteren Linksverteidiger und beorderte Mittelstädt auf die für ihn völlig ungewohnte Rechtsverteidiger-Position.
Neben Kimmich spielten im Mittelfeld mit Angelo Stiller und Leon Goretzka derweil gleich zwei weitere Sechser. Goretzka musste deshalb auf die Zehn ausweichen - und hatte dort gar keine Bindung zum Spiel. Die Folge all dieser Experimente: Das Gesamtkonstrukt funktionierte nicht.
Getty ImagesDFB-Team: Joshua Kimmich verteidigt Julian Nagelsmann
Öffentliche Kritik an den personellen und taktischen Maßnahmen Nagelsmanns wollte anschließend kein Spieler üben. Was zeigt, dass das Verhältnis zwischen Mannschaft und Trainer intakt ist. "Man braucht nicht über System, Taktik oder Dreierkette, Viererkette zu sprechen", sagte beispielsweise Kapitän Kimmich und nahm sich und seine Kollegen in die Pflicht: "Das ist einzig und allein eine Einstellungssache".
Einerseits hat Kimmich damit recht. Ja, mit der richtigen Einstellung sollte diese deutsche Auswahl völlig unabhängig von der Taktik gegen den Weltranglisten 52. Slowakei gewinnen. Hier mehrere Stammspieler des deutschen Meisters und die zusammen für 210 Millionen Euro in die Premier League gewechselten Florian Wirtz und Nick Woltemade. Dort Spieler aus der zweiten deutschen und englischen Liga. Andererseits macht es Nagelsmann seiner Mannschaft mit fragwürdigen Maßnahmen aktuell schwieriger als nötig - und scheint sie mit seiner Ansprache zudem nicht zu emotionalisieren.
Gewissermaßen ist das DFB-Team wieder am Ausgangspunkt seiner Amtszeit angekommen. Im dunklen Herbst 2023, als es verheerende Pleiten gegen die Türkei und Österreich setzte. Der Unterschied: Damals handelte es sich um Freundschaftsspiele, als Gastgeber war Deutschland für die anstehende EM qualifiziert. Nun herrscht bereits vor dem zweiten Qualifikationsspiel gegen Nordirland am Sonntag massiver Ergebnisdruck.