HINTERGRUND
Moskau vor elf Tagen: Während die letzten Takte der Eröffnungszeremonie ausklingen, fiebert ein ganzes Land dem Anstoß der WM 2018 entgegen. 78.011 Zuschauer haben an diesem späten Nachmittag in das Luschniki-Stadion gefunden, aber kaum einer davon hätte sich in diesem Moment erträumen können, mit welchem Ausrufezeichen der Gastgeber in dieses Turnier starten sollte.
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Russland gegen Saudi-Arabien. Das bedeutete in der Theorie auch das Aufeinandertreffen zweier der mutmaßlich schwächsten WM-Mannschaften. Vielleicht auch deswegen ist die erste Halbzeit aus russischer Sicht ein Wechselbad der Gefühle. Ohne hohe Erwartungen in die Partie gegangen, versetzt der Führungstreffer durch Yuri Gazinskiy das Publikum bereits in der 12. Minute in grenzenlose Begeisterung.
Die Freude über das 1:0 soll jedoch nur von kurzer Dauer sein, denn in der 24. Minute muss Leistungsträger Alan Dzagoev verletzt ausgewechselt werden. Doch für die Sbornaja ist es Glück im Unglück. Denn für Dzagoev kommt der Spieler mit der Nummer 6 auf den Rasen und entfacht mit seinen zwei Toren eine Euphorie im eigenen Land, die Russland durch das gesamte Turnier tragen könnte. Sein Name? Denis Cheryshev.
Trotz einer guten Saison im Verein muss sich der 27-Jährige in der ersten Begegnung der Gruppenphase zunächst mit seiner Rolle als Einwechselspieler zufrieden geben. Ohne Dzagoevs Pech hätte der russische Linksaußen vielleicht über die gesamte Distanz draußen gesessen. Hätte nicht die Chance erhalten, seinen Trainer Stanislav Cherchesov eines Besseren zu belehren.
Cheryshev: Ein Geistesblitz für die WM-Highlights
Und die nutzt er in der 43. Minute: Aleksandr Golovin sieht eine Lücke in der schlecht sortierten Abwehr des Gegners, bewahrt nach seiner Vorlage zum 1:0 erneut die Übersicht und bringt den Ball in die Gefahrenzone. Im Strafraum wartet Cheryshev, der zunächst zwei Gegenspieler gekonnt aussteigen lässt, um das runde Leder schließlich in die kurze Ecke zu wuchten.
Grenzenloser Jubel bei den Fans und auch beim Torschützen. Als erster Einwechselspieler netzte Cheryshev bei einer WM-Eröffnung. Elf Länderspiele hatte der Spieler des FC Villarreal auf diesen Moment warten müssen.
Getty ImagesWussten gegen Saudi-Arabien zu überzeugen: Aleksandr Golovin (l.) und Denis Cheryshev
Am Ende steht ein 5:0 auf der Anzeigetafel des Luschniki-Stadions und Cheryshev trägt mit seinem zweiten Tor, als er den Ball in der 91. Minute mit dem Außenrist am Torwart vorbei zum 4:0 in den rechten Winkel wuchtete, maßgeblich zu diesem Ergebnis bei. "Ich habe keine Worte dafür, wie ich empfinde. Ich bin glücklich, meinem Team geholfen zu haben, dass wir gewinnen konnten", schwärmte der 27-Jährige.
Für ihn ist die WM im eigenen Land auch ein Anlauf, seiner Karriere nach Jahren der Enttäuschung neuen Schwung zu verliehen. Obwohl der Linksaußen einst bei Real Madrid ausgebildet wurde und neben Vladimir Gabulov der einzige Spieler im Kader Russlands ist, der bei einem ausländischen Verein unter Vertrag steht, ist der russische Nationalspieler vor dem Turnier unter dem Radar geflogen. Zu groß waren die Auswirkungen seines Pechs vor drei Jahren, das ihn seine Karriere bei den Königlichen kostete.
Vom größten Verein Europas in die fußballerische Bedeutungslosigkeit
Geboren 1990 in Nischni Nowgorod, begleitete Cheryshev seinen Vater, der damals in Gijon spielte, bereits mit sechs Jahren nach Spanien und sammelte seine ersten Erfahrungen mit dem Ball daher im Klub seines Vaters.
Im Alter von zwölf Jahren wurde Real Madrid auf ihn aufmerksam. Nachdem der Sohn des russischen Nationalspielers Dmitri Cheryshev sämtliche Jugendmannschaften der Königlichen durchlaufen hatte, wurde das Talent 2009 schließlich in die zweite Mannschaft hochgezogen und erzielte unter der Leitung von Zinedine Zidane 22 Tore in 109 Spielen.
In den Kader der Profis schaffte es das Eigengewächs jedoch nicht und wurde daher 2013 zunächst an den FC Sevilla und anschließend an den FC Villarreal verliehen. Als die Vereinbarung 2015 endete, wollte sich Cheryshev erneut in Madrid versuchen, machte jedoch in erster Linie mit einer Verkettung unglücklicher Umstände auf sich aufmerksam.
Insbesondere wird der Moment in Erinnerung bleiben, als Rafael Benitez beim 3:1 gegen den FC Cadiz den im Pokal gesperrten Cheryshev aufgestellt hatte. Er hatte in der Vorsaison bei Villarreal drei Gelbe Karten gesehen und war daher nun nicht einsatzberechtigt.
"Der Verein wusste nichts davon. Villarreal hat uns in dieser Hinsicht nicht informiert und deshalb haben wir sowas nicht ahnen können. Mit seiner Auswechslung wollten wir unseren guten Willen zeigen", versuchte der ohnehin in der Kritik stehende Benitez im Anschluss vergeblich, die Wogen zu glätten. Ohne Erfolg, der spanische Verband schloss Real Madrid aus dem Wettbewerb aus.
In Erinnerung blieb also jener Fauxpas und nicht etwa das Führungstor, das Cheryshev in jener Partie markierte hatte. Spott und Kritik waren in den folgenden Tagen groß, es bedeutete praktisch das Ende seiner Zeit in Madrid. Es folgte eine erneute Leihe, diesmal zum FC Valencia, die allerdings ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt war. 2016 sicherte sich schließlich der FC Villarreal für sieben Millionen Euro seine Dienste.
Bei seinem neuen alten Klub erlebte er zunächst schwierige Zeit mit vielen Verletzungen, unter anderem machten ihm hartnäckige Knöchelprobleme zu schaffen. Von einem Stammplatz war er daher zunächst weit entfernt.
Die WM als Startschuss in einen zweiten Frühling?
In der abgelaufenen Saison lief es für den trickreichen Flügelspieler besser. 32-mal kam er zum Einsatz, erzielte drei Treffer und lieferte vier Assists. "Ich kann mich an seine Verfassung im letzten Jahr erinnern und verglichen mit der heutigen, sind das zwei verschiedene Menschen", zeigte sich Trainer Stanislav Cherchesov mit der Entwicklung zufrieden: "Er hat mir mit zwei Toren dafür gedankt, dass ich ihm geholfen habe, seinen Traum zu erreichen und bei der WM zu spielen."
Auch Cheryshev selbst hatte diese Leistungsexplosion nicht erwartet: "Ich wollte bei der Mannschaft sein, bei dieser WM. Allein darüber war ich schon glücklich. Einen solchen Start habe ich mir nicht in den kühnsten Träumen ausgerechnet."

Dass es keine Eintagsfliege war, demonstrierte der Dzagoev-Vertreter wenige Tage später in St. Petersburg. Wieder lag Russland in Führung, wieder machte Cheryshev mit einem Tor den Deckel auf den Sieg. Zweiter Einsatz, dritter Treffer. Mit dieser Bilanz gehört der Spanien-Legionär zu den besten Torjägern der Endrunde.
Auch dank Cheryshev ist die Euphorie in Russland vor dem letzten Gruppenspiel am Montag gegen Uruguay (16 Uhr im LIVE-TICKER) riesig. Die Sbornaja kämpft um den Gruppensieg und nicht nur weil Alan Dzagoev weiter verletzt ist ruhen die Hoffnungen beim Gastgeber längst erneut auf Denis Cheryshev.
