HINTERGRUND
Zwei Szenen aus dem dritten WM-Gruppenspiel gegen Nigeria sind den Fernsehzuschauern in Argentinien immer wieder vorgespielt worden – und der Ball war in beiden nicht zu sehen. Es ging nicht um Tore, Chancen, Taktik oder Einsatz, sondern ganz einfach um die Frage, wer bei der Albiceleste das Sagen hat. Und beide Szenen legen nahe, dass nicht Trainer Jorge Sampaoli der Hauptverantwortliche beim Nationalteam ist, sondern sein Superstar Lionel Messi.
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Szene eins: Mit 1:0 führten die Argentinier zur Pause im eminent wichtigen Match gegen die Afrikaner, das sie unbedingt gewinnen mussten. Auf dem Weg zurück auf das Feld sorgte Lionel Messi plötzlich dafür, dass die Mannschaft im Kabinengang noch einmal anhielt und er einige Worte an das Team richten konnte – wohlwissend, dass eine Kamera mit Sicherheit diesen Augenblick einfangen wird.
Marcos Rojo: "Leo war hartnäckig"
"Er hat allen gesagt, dass es um Leben und Tod für uns geht. Dass es unsere verdammte Pflicht ist, ein Tor zu machen, zu schießen, wenn sich die Möglichkeit ergibt", berichtete Verteidiger Marcos Rojo, der in der Schlussphase tatsächlich für den vielumjubelten Siegtreffer sorgte. "Wir hätten auch ein Gegentor kassieren können, aber Leo war hartnäckig", fügte der Abwehrspieler hinzu.
Getty ImagesDer Chef und sein Trainer? Lionel Messi holt sich den Dank von Jorge Sampaoli (r.) ab
Und genau das wollte Messi wohl mit seiner halb-öffentlichen Motivationsrede klarstellen: Er nimmt die Rolle des Anführers an und an seinem Siegeswillen soll kein Zweifel bestehen. Von der Verzweiflung, die in seinem Gesicht während der 0:3-Niederlage gegen Kroatien zu sehen war, war nichts mehr zu erkennen. Entschlossenheit demonstrierte der fünffache Weltfußballer.
Aguero-Einwechslung auf Messi-Anweisung?
Szene zwei: "Lo pongo al Kun?" – das ist der Satz, den die Lippenleser erkannt haben wollen. "Soll ich Kun bringen?", fragte Sampaoli demnach in der Schlussphase des Duells gegen Nigeria mit Blick auf einen Einsatz von Sergio 'Kun' Agüero und der Adressat des Satzes war Lionel Messi. Ein Trainer, der seinen Spieler nach einer Erlaubnis für eine Einwechslung fragt? Genau das ist laut argentinischen Medien geschehen, denn Messi nickte als Antwort – und kurz darauf durfte Agüero das Feld betreten.
Wenn es wirklich genau so passiert ist, wäre das eine ungewöhnliche Umkehr der Hierarchie: Ein Coach als Befehlsempfänger seines Superstars, als Marionette an der Seitenlinie. Und es gibt noch weitere Anhaltspunkte für die Annahme, dass Lionel Messi inzwischen der echte Chef der Albiceleste ist und er Jorge Sampaoli in dieser Hinsicht abgelöst hat.
Da wäre zum einen die Aufstellung im Nigeria-Spiel: Mit Angel Di Maria und Gonzalo Higuain standen zwei Routiniers und alte Weggefährten Messis in der Startformation, nachdem sie gegen Kroatien noch in der ersten Elf gefehlt hatten. Spieler, bei denen der Barca-Star genau weiß, was er von ihnen erwarten kann, auch wenn es trotz drei Final-Teilnahmen bislang nicht zum großen Titelgewinn mit der Nationalmannschaft reichte.

Der von vielen geforderte Paulo Dybala blieb draußen – da Messi und auch Sampaoli der Meinung sind, dass er dem Superstar von der Spielweise her zu ähnlich sei. "Wir haben keine Zeit, an der Zusammenarbeit von Dybala und Messi zu arbeiten, deshalb sollten wir uns auf konkretere Sachen konzentrieren", hatte der Argentinien-Trainer schon Ende 2017 öffentlich gesagt. Konkretere Dinge – das war gegen Nigeria die Rückbesinnung auf Angel Di Maria und Gonzalo Higuain, auch wenn der Mann auf dem Flügel und der Mittelstürmer nicht ihren besten Tag erwischt hatten.
Sampaoli "stolz und glücklich" über eine Geste
Am Ende reichte es für Argentinien aber mit der Qualifikation für das Achtelfinale, Sampaoli umarmte nach dem Schlusspfiff seinen Superstar Lionel Messi – und fand bemerkenswerte Worte. "Als Leo zu mir gekommen ist und mich umarmt hat, war ich sehr stolz und glücklich", sagte der Trainer und wirkte wie ein Coach, der um die Zuneigung und Anerkennung seines Spielers kämpfen musste.
Wenn Argentinien nun am Samstag zum schweren Achtelfinale gegen Frankreich antritt (ab 16 Uhr im LIVE-TICKER), wird zwar wieder der Name Jorge Sampaoli als Trainer auf dem Aufstellungsbogen auftauchen. Doch nicht nur in Argentinien ist es inzwischen ein offenes Geheimnis, dass das nur die halbe Wahrheit ist, denn Sampaoli ist allem Anschein nach nur noch der verlängerte Arm von Lionel Messi.
