Kai Havertz Bayer Leverkusen Werder BremenGetty

Kai Havertz vor Debüt in der A-Nationalmannschaft: Der Frühreife


HINTERGRUND

Ein Jeder dürfte während seiner Schulzeit schon mal mit diesem einen Mitschüler in Berührung gekommen sein, der innerhalb des Klassenverbundes mit Argwohn betrachtet wird. Der jede Klausur, egal um welches Fach es sich handelt, ohne große Mühe, beinahe gelangweilt, in eine Bestnote verwandelt, ganz offensichtlich mit dem vom Kultusministerium vorgeschriebenen Lehrplan unterfordert ist. Ebenjene Überflieger, die nach mehr Herausforderung dürsten, dürfen dann in Abstimmung mit ihren Eltern und den Lehrern entscheiden, ob es einen Jahrgang nach oben gehen, die Klasse somit übersprungen werden soll.

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Rein schulisch betrachtet, gehörte Kai Havertz nicht zu der oben beschriebenen Zunft der frühreifen Alleskönner. Vielmehr zählte der mittlerweile 19-Jährige, der im vergangenen Jahr sein Abitur auf dem Landrat-Lucas-Gymnasium in Opladen ablegte, diesbezüglich zu den Normalos. Mit einer Durchschnittsnote von 3,3 sicherte er sich letztlich die Allgemeine Hochschulreife. Eine Errungenschaft, von der er in den nächsten Jahren sicherlich keinen Gebrauch machen wird. Denn: Während andere aufgrund ihrer herausragenden Leistungen in Mathematik, Physik, Englisch oder Deutsch glänzten, startete er im Fußball so richtig durch, zog in rekordverdächtiger Geschwindigkeit an seinen Altersgenossen vorbei und zählt seit wenigen Tagen zum Kader der deutschen A-Nationalmannschaft.

Von der kleinen zur großen Alemannia

Havertz erblickte im Juni 1996 in Aachen das Licht der Welt und wuchs im nahegelegenen Alsdorf auf. Bereits als Vierjähriger schnürte er erstmals die Fußballschuhe für den hiesigen Klub Alemannia Mariadorf. "Wir haben keine 100 Meter vom Sportplatz entfernt gewohnt. Es wäre daher ein Wunder gewesen, wenn ich nicht eines Tages für den Verein gespielt hätte", erklärte er jüngst im Interview mit SPOX und schob nach: "Nach relativ kurzer Zeit habe ich dann zwei Jahrgänge übersprungen. Rückblickend hat es mir geholfen, dass ich so schnell bei den Älteren dabei war, denn dadurch konnte ich vieles lernen, was mit den Jungs in meinem Alter womöglich schwieriger geworden wäre."

Dass sich dort in Alsdorf, im Dunstkreis der niederländischen Grenze, ein ganz besonderes Juwel entwickelte, blieb selbstverständlich dem größten Klub in der Umgebung nicht verborgen. Alemannia Aachen lockte den kleinen Kai mit neun Jahren in die lediglich 20 Kilometer entfernte Printenstadt. Dorthin, wo er mit seinem Bruder und Vater während der einjährigen Bundesliga-Stippvisite der Aachener stets in der Fankurve am altehrwürdigen Tivoli gestanden hatte.

Allerdings habe es schon zu diesem Zeitpunkt noch namhaftere Interessenten gegeben, wie Havertz im Gespräch mit SPOX weiter verriet: "Es gab bereits in der U8 erste Kontakte zu größeren Klubs. Da war Leverkusen mit dabei, aber auch Gladbach und Köln. Damals waren aber meine Eltern und auch ich gegen einen Wechsel. Ich ging in meinem Heimatdorf zur Schule und dann täglich zwei Stunden im Auto nach Leverkusen und zurück zu sitzen, wäre in diesem Alter wohl zu viel des Guten gewesen."

Da Havertz auch in Aachen, also eine Ebene höher als bis dato, keine Anstalten machte, seine rasante Entwicklung zurückzufahren, wurde er auch bei den Alemannen nach oben gezogen, um sein Können bei den Älteren unter Beweis zu stellen. Nach nur einem Jahr, sprich 2010, ging es dann tatsächlich weiter zu Bayer Leverkusen. "Wir haben gesagt, wir versuchen das jetzt einfach mal mit dem Wechsel nach Leverkusen und wenn es nicht klappen sollte, dann gehe ich zurück nach Aachen", sagte Havertz, der sein in die Wiege gelegtes Talent als "reinen Zufall" bezeichnet.

Kai Havertz: "Habe meine Hausaufgaben oft auf der Autobahn gemacht"

Bei der Werkself durchlief der Mittelfeldmann sämtliche Jugendmannschaften, pendelte zunächst täglich zwischen Elternhaus und dem Bayer-Nachwuchsleistungszentrum am Kurtekotten. Ein stressiges Unterfangen, wie sich schon bald herausstellen sollte. "Nach der Schule ging es mit dem Fahrdienst zum Training, anschließend wieder nach Hause – wenn kein Stau war. Es gab jedoch auch einige Male, da standen wir im Stau, haben das Training verpasst und sind wieder nach Hause kutschiert. Ich habe oft meine Hausaufgaben auf der Autobahn gemacht."

Obwohl vor allem seine Mutter den Auszug ihres Sohnes im Alter von 15 Jahren als zu früh empfand, quartierte Havertz sich im Haus von Leverkusens Stadionsprecher Klaus Schenkmann und dessen Frau ein, ehe er im Jahr darauf eine WG mit seinem älteren Bruder eröffnete, der damals in Köln studierte. Wer darauf spekuliert hatte, Havertz Fortschritt würde mit dem Engagement bei Bayer 04 etwas eingebremst werden, sah sich schnell eines Besseren belehrt. Wie schon bei seinen ehemaligen Vereinen durchquerte der schlanke Allrounder die jeweiligen U-Mannschaften der Leverkusener im Eiltempo, führte die U17 zwischenzeitlich zur deutschen Meisterschaft, ehe er – quasi ohne den "Umweg" über die  A-Jugend zu nehmen - von Trainer Roger Schmidt im Oktober 2016 für das Bundesliga-Spiel bei Werder Bremen kurzfristig in den Profikader berufen wurde, weil Lars Bender erkrankt war.

"Ich saß an dem Samstag um zehn Uhr mit meiner Familie am Frühstückstisch und plötzlich rief mich Roger Schmidt an. Er sagte nur: 'Lars ist krank, bitte komm nach.' Ich bin also von Aachen nach Leverkusen gedüst und von dort mit einem Fahrer weiter nach Bremen. Als ich dort auf der Bank saß, dachte ich: Jetzt wechsle mich einfach ein, damit sich der Aufwand auch gelohnt hat", erinnerte sich Havertz, dessen Flehen offenbar erhört wurde, sodass nach der Begegnung mit den Hanseaten prompt die ersten sieben Minuten in Deutschlands Beletage zu Buche standen. Nur drei Wochen später spulte der Emporkömmling beim 3:2-Erfolg gegen Darmstadt 98 gleich einmal die kompletten 90 Minuten ab und avancierte so zu Bayers jüngstem Startelf-Spieler der Vereinsgeschichte.

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Mittlerweile, 66 Pflichtspiele, acht Tore sowie 15 Vorlagen später, zählt Havertz beinahe schon zu den Arrivierten im Bayer-Trikot. Trotzdem gab er zuletzt zu bedenken: "Ich muss weiter an mir arbeiten", ehe er das ambitionierte Fernziel ausgab: "Es sollte jetzt nach anderthalb ordentlichen Bundesliga-Saisons dennoch mein Anspruch sein, in nicht allzu weiter Ferne mal ein A-Länderspiel zu machen. Ich sehe das gelassen, habe es aber natürlich im Hinterkopf." Aus den Gedanken, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch im Hinterkopf tummelten, dürfte schon bald Realität werden, kann sich der Youngster doch berechtigte Hoffnungen auf sein Debüt im Trikot des DFB-Teams machen.

Bundestrainer Joachim Löw stellte Havertz, der neben Thilo Kehrer von Paris Saint-Germain und Hoffenheims Nico Schulz zu den Novizen zählt, in Aussicht: "Alle drei haben einen guten Eindruck gemacht. Es ist geplant, dass sie in den beiden Spielen zu Einsatz kommen." Gemeint sind damit das Nations-League-Spiel am Donnerstag (20.45 im LIVE-TICKER) gegen Frankreich in der Münchner Allianz Arena sowie das Testspiel gegen Peru drei Tage später in Sinsheim.

Damit würde sich der Kreis für Havertz, der in diesem Jahr mit der Fritz-Walter-Medaille in Gold ausgezeichnet wurde und als jüngster Spieler der 55-jährigen Historie 50 Bundesliga-Einsätze auf die Uhr brachte, schließen. Der DFB-Musterschüler der vergangenen Jahre schraubt also weiter an seiner Überholspur-Karriere, lässt den üblichen Zwischenschritt namens U21 einfach weg, bevor er ganz oben angreift. Fast schon selbstverständlich für einen, der seinen Altersgenossen in einer Disziplin immer schon um Längen voraus war. Ganz ähnlich, wie bei den denjenigen, die in der Schule aufgrund ihrer schnellen Auffassungsgabe und Hochbegabung die argwöhnischen Blicke ihrer Klassenkameraden ernteten.

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