HINTERGRUND
In einem grauen Bürogebäude, das von außen nach Versicherung oder Behörde aussieht, befindet sich das Herzstück der Männer, die gegen eines der größten Probleme Italiens kämpfen, das die Gesellschaft so tief durchdrungen hat und in seinen Klauen hält: Die Mafia. In Palermo arbeiten sie von hier aus gegen die Cosa Nostra, die im 19. Jahrhundert entstandene sizilianische Mafia, deren Dynastien ein Machtfundament geschaffen haben, das heute verankert ist in Politik, Wirtschaft und Gastronomie. Die Mafia-Jäger arbeiten mit Undercover-Agenten, haben ein geheimes Abhörnetz geschaffen, mit dem sie jeden Tag hunderte Gespräche mithören. Immer auf der Suche nach dem Code, nach dem die Kriminellen ihren Machenschaften im ganzen Land nachgehen.
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Im Jahr 2013 tauchte auf dem Flipchart im Hauptquartier mit den ganzen Namen und den Verbindungen zwischen ihnen ein weiteres Puzzleteil auf. Es bekam eine Fallnummer und wäre an sich nichts Besonderes gewesen. Wenn sein Name nicht Fabrizio Miccoli gewesen wäre. Seines Zeichens Legende und Kapitän von US Palermo. Italienischer Nationalspieler, Fußballstar. Und jetzt plötzlich Mafioso? Was ist passiert mit dem heute 38-Jährigen, der Ende Oktober zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt wurde?
Mit 23 Angebote von Milan, Inter und Juve
Geboren wurde Miccoli in Nardo. In Apulien, das am Absatz des Stiefels liegt, geht es beschaulich zu. Die Menschen sind gläubig, die Industrie im Norden des Landes ist weit entfernt. Sizilien ist nah und die Mafia ist hier, im tiefen Süden, der sich von Rom vergessen fühlt, mächtig. Die Korruption ist hier besonders hoch. Und auch der Stolz auf seine Heimat. Die ultrarechte Lega Nord bekommt hier besonders viele Stimmen. Und natürlich ist der Fußball hier ganz groß. Einer spielt in den Achtziger Jahren besonders gut. Er ist einen Kopf kleiner als seine Mitspieler, aber ihnen allen technisch um Längen voraus. Er vergöttert den jungen Roberto Baggio, dessen Spielen beim AC Florenz er immer in der kleinen Gaststätte in der Nähe seines Elternhauses zusieht – und ahmt dessen Finten und Pirouetten auf dem Platz nach.
So gut, dass er mit 17 bei Sasarena Calcio in der Serie C1 debütiert. Dort wirbelt der nur 1,68 Meter große Stürmer die Gegner nach Belieben durcheinander, schießt in zwei Jahren 19 Tore. Es folgt der Wechsel zu Temana Calcio in die Serie B. Der meist als hängende Spitze eingesetzte Miccoli brilliert auch eine Etage höher, erzielt in seinen vier Jahren in Umbrien 31 Tore und hat 2002, da ist er 23, Angebote vom AC Mailand, von Inter, von beiden Hauptstadt-Klubs und von Juventus. Er entscheidet sich für den Meister aus Turin.
GettyTrezeguet und Del Piero zu gut
Die Alte Dame, damals von Marcello Lippi trainiert, ist das Nonplusultra im Land, wurde gerade Meister. Gianluigi Buffon, Lilian Thuram, Gianluca Zambrotta, Edgar Davids, Pavel Nedved, Alessandro Del Piero, Marco Di Vaio, Marcelo Salas, David Trezeguet – die Liste namhafter Akteure ist lang. Weil gerade die Offensive absolute Premium-Qualität verkörpert, wird Miccoli ein Jahr an den AC Perugia verliehen. In seinem ersten Erstligajahr erzielt er neun Tore, darunter auch eines beim 2:2 gegen seinen eigentlichen Arbeitgeber. Er ist in Top-Form, debütiert für die Squadra Azzurra. Die logische Folge: Juve holt ihn zurück.
Obwohl er nur elfmal in der Startelf steht, schießt er acht Tore. "Er macht im Training Sachen, die unglaublich sind", sagt Mitspieler Mauro Camoranesi. Miccoli erinnert, was den Spielstil angeht, ein wenig an Alexis Sanchez, er ist wendig, trickreich, hat einen guten Abschluss und diese schnellen vielen Schritte beim Sprinten. Und dennoch: Er wird wieder verliehen, dieses Mal an den AC Florenz. Zu gut sind seine Konkurrenten Del Piero und Trezeguet. Für die Viola schießt er zwölf Tore, bei seiner nächsten Leihstation Benfica 14 Tore.
Palermo und Miccoli - eine große Liebe
Plötzlich ist Miccoli 28, die große Karriere, zu der seine fußballerische Qualität gereicht hätte, ist ausgeblieben. Also hört er auf sein Herz. "Ich wusste, dass ich zurück in den Süden muss", sagt er. Und so kommt es. 2007 wechselte er zu Palermo, nach Sizilien. Die Fans empfangen ihn wie einen Messias.
Und er enttäuscht sie nicht. Im Herbst seiner Karriere entwickelt er sich zu einem der besten Stürmer der Serie A. Er trifft und trifft. Acht, 14 und 19 lauten die Torzahlen in seinen ersten drei Jahren. Miccoli ist Torjäger, wird bald Kapitän. Publikumsliebling ist er sowieso. Denn er liebt seinen Klub genau so wie der Klub ihn. Als er ein Angebot aus der Premier League vorliegen hat, sagt er: "Ich hätte ausgesorgt, würde ich annehmen. Aber wie könnte ich meinen Verein verlassen?"
Gut befreundet mit den Sohn des Mafia-Bosses
Die Ermittler kommen später zum Schluss, dass er recht schnell in zwielichtige Kreise gerät. Verwunderlich ist das nicht. Die High Society besteht aus Schauspielern, Sportlern, Politikern – und Mafiosi. Sie gehen in die Restaurants, die auch Miccoli mit seinen Freunden besucht. Man kennt sich schnell, zockt zusammen in Kasinos. All das bestreitet Miccoli später. Dabei gibt es umfangreiche Ordner mit Zeugenaussagen, die Verweise seiner Person zu Mafia-Boss Antonio Lauricella und seinem engen Kreis herstellen.
Lauricella ist der Kopf der sizilianischen Mafia, ein Pate alter Schule, der lange im Gefängnis saß. Korruption, Totschlag, Mord, Körperverletzung. Seine Anklageliste ist lang. Einer härteren Strafe entging er oft nur, weil er gute Kontakte hat, geschickt arbeitet und prominente Anwälte die Mafia vertreten. Tagsüber kämpfen sie für ihre kriminellen Klienten, abends wird gemeinsam im Restaurant gegessen. Miccoli, der stets eine ausgeprägte Fannähe hat, ist bald eng mit dem Sohn des Paten, Mauro, befreundet.
Getty ImagesErpressung, abgehörte Telefone, Verurteilung
Was Miccoli nicht ahnt: Ihm ist ein Team auf den Fersen. Bestehend aus Top-Ermittlern, die die Operation vorbereiten, der Cosa Nostra einen schweren Schlag zu versetzen. Alles ist Top Secret, nur wenige sind beim Geheimdienst in Rom im Bilde. Zu groß ist die Angst vor Maulwürfen. Denn für die eingesetzten verdeckten Ermittler wäre eine Aufdeckung lebensgefährlich. Das Team arbeitet Tag und Nacht, wertet Daten und Zeugenberichte aus. Als Miccoli ins Visier der Ermittlungen gerät, wurden bereits mehrere Zeugenschutzprogramme verabschiedet. Die Ermittler legen ihm zur Last, dass er den 1992 von der Mafia ermordeten Staatsanwalt Giovanne Falcone als "Dreck" bezeichnet hat. Und dass er gemeinsam mit dem Sohn des Paten einen Physiotherapeuten des Vereins erpresst hat. Und das mit Mafia-Methoden. Also Einschüchterung, Geldeintreibung und Drohungen.
Die Taten hatten sich 2010 und 2011 ereignet, 2013 holte Miccoli seine Vergangenheit also ein. Er hat damals hohe Schulden bei Freunden. Die Ermittler nehmen an, dass er spielsüchtig ist. Also erpresst er den Physio, später zudem den Besitzer eines Nachtclubs. Es kommt in dem undurchsichtigen Fall sogar dazu, dass Mauro Lauricella ebenjenen Club-Besitzer zusammenschlägt. Später wird er dafür verurteilt.
Es dauert ganze vier Jahre, in denen Miccoli weiter abgehört, bis er schließlich verurteilt wird. Im Oktober 2017, Miccoli hatte seine Karriere vorher beendet, dann das Urteil: dreieinhalb Jahre Haft wegen Erpressung und Verbindungen zur Mafia. Weil man befürchtet, er würde sich absetzen, gibt es keine Kaution. Miccoli bestreitet weiter alles. 2013 hatte er unter Tränen verkündet, er sei kein Mafioso, heute lässt er über seinen Anwalt verlauten: "Es ist traurig, dass er verurteilt wird, während der Täter weiter frei herumlaufen darf. Gemeint ist Mauro Lauricella, der nur wegen der Körperverletzung belangt, wegen der Erpressung aber freigesprochen wird.
Angst vor den Mafia-Killern
Es ist eine mutige Verteidigungsstrategie, die das Miccoli-Lager wählt. Denn den Sohn eines Mafia-Bosses zu beschuldigen, kann tödlich sein. Lauricella senior gilt als Hardliner, verdient an Kokain- und Heroin-Verkauf Millionen. Als 2011 mehrere Hektar seiner Grundstücke beschlagnahmt wurden, weil er im großen Stil Steuern hinterzogen hatte, fand man neben nicht angemeldeten Luxus-Autos auch Waffen. Der Mann mit dem grauen Rauschebart, der sich meist in Polo-Hemden und mit Sonnenbrille präsentiert, hat Auftragskiller unter seinem Kommando. Nun seinen Filius zu beschuldigen, kann für einen Auftrag an einen von ihnen reichen. Das fürchten auch die Mafia-Jäger, die in den letzten Jahren mehrere hochrangige Mitglieder der Cosa Nostra verhafteten, weshalb Miccoli unter besonderem Schutz steht.
Staatsanwalt Falcone, eine Legende im Kampf gegen die Mafia, wurde 1992 von einer 500-Kilogramm-Bombe getötet. Das Attentat löste damals eine Staatskrise aus, weil seine streng geheime Route von Mitarbeitern aus innersten Ministeriums-Kreisen verraten worden war. Der Fall zeigt, wie gefährlich und mächtig die süditalienische Mafia ist. Und wie naiv es ist, sich mit ihr einzulassen. Das muss auch Miccoli gewusst haben. Er setzte damals alles aufs Spiel – und hat verloren. Sein Ruf ist ruiniert. Er ist jetzt für alle die Vereins-Ikone, die zum Mafioisi wurde. Von dem Mann, dessen Trikot die Männer im Büro in Palermo am Wochenende trugen zu einem der Männer, die sie jagen.


