HINTERGRUND
Ein Parkplatz in Milton Keynes, eine jener Planstädte, gelegen mitten in England, gebaut in den 1960er Jahren, um die knapp 90 Kilometer nach Südosten entfernte Hauptstadt London eines Teils der Bevölkerungsmassen zu entlasten. 230.000 Menschen leben in Milton Keynes, Dele Alli wächst hier auf. Vor allem auf jenem Parkplatz.
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"Ich ging dort oft mit meinen Freunden hin, um Fußball zu spielen, als Torpfosten benutzten wir unsere Fahrräder", sagte Alli dem Evening Standard. "Ich denke, die Dinge von damals kann man heute noch in meinem Spiel sehen. Ich schaute Tricks auf YouTube an und probierte sie aus."
Alli hat es weit gebracht seitdem. Mit 22 hat er schon über 100 Premier-League-Spiele für Tottenham absolviert, köpfte England bei der WM 2018 in Russland zum Sieg gegen Schweden und damit ins Halbfinale, wo am Mittwochabend (20 Uhr im LIVE-TICKER) Kroatien wartet. Nur ein Schritt fehlt noch bis zu dem Spiel, von dem jedes kleine Kind träumt, bis zum WM-Finale.
Englands WM-Star Dele Alli und seine schwere Kindheit
Sein Weg hierher war steinig. Nicht unbedingt aus finanziellen Gründen, denn sein nigerianischer Vater Kehinde ist ein erfolgreicher und wohlhabender Geschäftsmann. Aber Allis Kindheit und Jugend war ein ständiges Hin und Her, ein Kontinuum an innerer und äußerer Zerrissenheit.
Sein Vater ging nur eine Woche nach Allis Geburt zunächst in die USA, Allis Mutter Denise hatte Alkoholprobleme, war mit sich selbst beschäftigt und konnte Dele offenbar nie die Liebe schenken, die er benötigte. Und um den Kontakt zum Vater nicht gänzlich zu verlieren, zog Alli als Neunjähriger nach Lagos, in die nigerianische Heimatstadt von Papa Kehinde, der vorübergehend wieder dort lebte.
Alli erfuhr Luxus, wohnte in einer Zehn-Zimmer-Villa, wurde von drei Hausmädchen bedient und besuchte eine internationale Privatschule für mehr als 22.000 Euro im Jahr. Später zog Dele gemeinsam mit dem Vater weiter nach Houston in die USA, durfte sich auch dort in einer Villa austoben, erlebte aber auch als Trauzeuge, wie Alli senior seine zweite Frau heiratete.
Erfahrungen, die an einem Zehnjährigen sicherlich nicht spurlos vorüber gehen. Mit elf kam Alli schließlich wieder zurück nach Milton Keynes, zurück zu seiner Mutter. Die hatte ihre Schwierigkeiten jedoch keineswegs überwunden. "Ich hatte vier Kinder von vier unterschiedlichen Männern, aber keine Beziehung hielt sich. Ich war eine alleinerziehende Mutter und es war manchmal wirklich hart", sagte Denise Alli einmal in einem Zeitungsinterview.
GettyDele Alli bejubelt sein Tor zum 2:0-Endstand im WM-Viertelfinale gegen SchwedenDele machte indes immer wieder Probleme in der Schule, erzog sich selbst, suchte lieber draußen auf der Straße als zuhause nach Identität - und drohte, auf die schiefe Bahn abzurutschen. "Ich kam schon in jungen Jahren in das falsche Umfeld", sagte er dem Evening Standard. Allis Glück war sein Talent, der Fußball verhinderte ein Leben, in dem er ohne die Kugel an seinem Fuß möglicherweise als gescheiterte Existenz geendet wäre.
Dele Alli: Wenn die 10.000-Stunden-Regel greift
"Der Fußball zerstreute den Weg, auf den ich eigentlich zusteuerte", betont Alli heute. Eine Gelegenheit zum Kicken fand er in den unzähligen Stunden, die er einfach irgendwo auf den Straßen, Park- oder Bolzplätzen verbrachte, um nicht nach Hause zu müssen, immer. Mike Dove, Nachwuchschef von Miton Keynes Dons, Allis erstem größeren Klub, formulierte es gegenüber dem Telegraph so: "Man sagt, dass man als Kind 10.000 Stunden trainieren müsse, um ein Weltklassespieler zu werden. Wenn du diese 10.000 Stunden schon nur für dich selbst erfüllst, umso besser. Er brachte es sich selbst bei, machte Fehler und lernte, wie er sie korrigieren kann."
Mit elf Jahren, kurz nachdem er aus Houston in die Heimat zurückgekehrt war, wurde Alli von Milton Keynes Dons, damals Drittligist und gerade nach zwischenzeitlichem Zweitliga-Aufstieg in die vierte englische Liga durchgereicht, entdeckt. "Wenn ich zurückblicke, denke ich: Oh ja, er war sensationell", sagt Nachwuchschef Dove.
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Alli war schnell eine der größten Hoffnungen in der Akademie von MK Dons. Und die Trainer und Verantwortlichen bekamen natürlich mit, dass er aus einem extrem schwierigen familiären Umfeld kommt, das ihn kaum unterstützte. Das Jugendamt warf aufgrund von Beschwerden der Nachbarn, die von den Alkoholproblemen der Mutter längst mitbekommen hatten, ein immer strengeres Auge auf den Haushalt von Denise Alli - und als Dele 13 war, stimmte seine Mutter schließlich zu, dass ihr Sohn fortan in der Familie eines anderen MK-Dons-Nachwuchsspielers leben sollte. Dessen Eltern, Alan und Sally Hickford, bei denen er die Rest seiner Zeit in Milton Keynes verbrachte, sieht Alli noch heute als seine Adoptiveltern.
"Ich wusste, dass dies der einzige Weg war, damit er seinen Traum, Profi-Fußballer zu werden, verwirklichen konnte", betonte Mutter Denise im Interview mit der Sun. "Es war sehr hart, meinen Sohn aufzugeben. Aber es war seine Rettung."
Alli entwickelte sich bei MK Dons rasant weiter, hatte dabei Glück, große Förderer wie Mike Dove zu haben: "Was ich bei Dele verstanden habe, war, dass für ihn der Genuss immer an erster Stelle stand. Für ihn war Fußball immer Spaß. Wenn ich ihm Anweisungen zugebrüllt hätte, wäre er schnell gelangweilt gewesen. Stattdessen haben wir ihn sich einfach ausleben lassen."
Dele Alli: Profidebüt mit 16, Durchbruch bei Tottenham, WM-Star für England
Besonders beeindruckend war, dass der Sprung von den Junioren zu den Senioren, der für viele extrem groß ist, für Alli kaum vorhanden war. "Bei ihm war es einfach: So Junge, jetzt geh' und spiel'", sagt Karl Robinson, der Trainer, der Alli Ende 2012 schon mit 16 für die erste Mannschaft von MK Dons in der dritten Liga debütieren ließ.
2014/15, in seiner zweiten vollen Saison bei den Profis, gelangen ihm 16 Tore in der dritten Liga. Tottenham sicherte sich das Supertalent, Alli hatte es schon mit 18 ganz nach oben geschafft. Rund um jene Zeit der Vertragsunterschrift bei Tottenham im Februar 2015 fand aber auch der bis heute letzte Kontakt zur Familie statt.
Ob von Mutter Denise, Vater Kehinde oder seinen Geschwistern, Alli blockt jegliche Versuche, wieder mit seiner Familie zu sprechen ab. Beinahe herzzerreißend erzählte seine Mutter dem Sunday Mirror vor einigen Monaten über das bisher letzte echte Treffen mit ihrem Sohn: "Er war guter Dinge und sagte: 'Ich liebe dich, Mama'. Ich hätte nie gedacht, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein würde, dass ich ihn sehe. Es schockiert mich immer noch."
2017 wartete sie nach einem Spurs-Spiel mal vor dem Stadion, um Dele abzufangen. "Ich wartete und sagte zu ihm, als er raus kam: 'Dele, ich bin's, deine Mutter.' Aber er blieb nicht einmal stehen, sagte nur, dass er es eilig habe und fuhr weg. Ich weinte, es brach mir das Herz."
Die Kontaktversuche von Allis Vater waren ebenso erfolglos, im Sommer 2016 hatte sich der Spurs-Star zudem dazu entschieden, statt seines Nachnamens fortan seinen Vornamen Dele auf seinen Trikots zu tragen. "Ich wollte einen Namen auf meinem Trikot, der ausdrückt, wer ich bin. Und ich fühle, dass ich mit dem Nachnamen Alli keine Verbindung habe", erklärte er seinerzeit.
Auch bei der WM prangt über seiner Nummer 20 auf dem Jersey der englischen Nationalelf, die er erstmals seit 1966 zum Titel führen will, nur sein Vorname. Eine traurige Geschichte, die aber dennoch irgendwie die riesige Kraft des Fußball widerspiegelt. Eine Kraft, die Dele Alli seit jeher verkörpert. Angefangen auf dem Parkplatz in Milton Keynes, mit den Fahrrädern als Torpfosten.
