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Nikon El Maestro: Der tiefe Fall des Magiers

Als Chelsea Handler im Herbst 2011 das serbische Volk als "Schande und Enttäuschung" betitelte, weil Fans in Belgrad die in der Zwischenzeit verstorbene Amy Whinehouse ausgebuht hatten, beendete die US-amerikanische Showmasterin und Komikern dadurch unwissentlich die sowieso schon ins Wanken gekommene Karriere eines 18-jährigen Talents namens Nikon El Maestro.

Denn rund 6800 Kilometer entfernt saß der in seinem Zimmer in Wien und war wütend. Wütend, weil Handler das Volk seiner Eltern beschimpft hatte, wütend, weil er sich als Entwurzelter selbst angegriffen fühlte.

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Er war jung, seine Entscheidung eine spontane. Mit Freunden nahm er einen serbischen Rap auf, in dem er Handler als "jüdische Hure" bezeichnete. Eine weitere Kostprobe: "Hündin, komm nach Belgrad, Gruppensex!" Die Jungs stellten den Track auf YouTube und nur Tage später bat der Manager des SC Wiener Neustadt, Nikons Arbeitgeber, den Teenager zum Rapport und feuerte ihn mit sofortiger Wirkung.

Nikon El Maestro war mit 18 plötzlich arbeitslos, kurz bevor es zum ersten Einsatz in der damals von Peter Stöger trainierten Profimannschaft kam. Das einstige Wunderkind sollte sich nie wieder erholen, spielte in den letzten Jahren in Ungarn, Polen, der zweiten serbischen Liga und zwischenzeitlich gar nur noch in der siebten österreichischen Liga. Im Oktober beendete er seine Karriere, der Stern eines der größten Talente des 21. Jahrhunderts war endgültig verglüht.

Über Belgrad und London nach Wien

El Maestro kam 1993 in Belgrad als Nikon Jevtic zur Welt. Bald flohen die Eltern mit ihm und dem älteren Bruder Nestor vor dem Krieg nach London. Der Jüngere kickte bereits mit fünf Jahren bei West Ham United und der Knirps zeigte unvorstellbares Talent, ließ die teilweise zwei Köpfe Größeren wie Stangen stehen.

Er konnte alles: dribbeln, schießen, bewies Übersicht. Sieht man sich Videos von ihm als Kind an, weiß man, warum er später die gesamte Branche zum Schwärmen brachte. Er führt den Ball mit einer technischen Vollendung, die man seinem winzigen Körper niemals zugetraut hätte. Und obwohl der Ball viel zu groß wirkte, konnte er erstaunlich hart schießen.

2002, da war Jevtic neun Jahre alt, zog die Familie wegen eines neuen Jobs des Vaters als Immobilienmakler nach Wien. Dem senkrechten Aufstieg des kleinen Burschen mit den raspelkurzen Haaren tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Bei Austria Wien wurde er besser und besser. Mit zehn spielt er in der U14. Gegenspieler, Lokalpresse und Konsorten staunten gleichermaßen über den Fintenreichtum, der während der Zeit auf der Insel auch die Scouts des FC Arsenal ins Staunen versetzte, als er den Ball 1000-mal hochgehalten haben soll.

Barca, Real und Co. - ganz Europa ist interessiert

Egal, ob bei internationalen Jugendturnieren oder Ligaspielen – Jevtic brillierte und rief die versammelte europäische Elite auf den Plan, die sich um seine Dienste sprichwörtlich prügelte. Der FC Barcelona, Real Madrid, englische Top-Klubs. Sie alle boten ihm Verträge an. Die einzige Bedingung: Nikons Bruder Nestor, der eine Trainerkarriere anstrebt, sollte mitkommen und als Jugendtrainer arbeiten dürfen.

Eine Forderung, die vielen Klubs zu weit ging. Schließlich war das Objekt der Begierde, das auf YouTube mit seinen Tricks und Toren tausende Klicks erzielte, erst elf. Als die Familie nicht einlenkte, distanzierten sich die Klubs – was aus heutiger Sicht nicht wirklich nachzuvollziehen ist. Schließlich ging es primär darum, einem Kind eine Vertrauensperson mitzugeben und nicht ausschließlich um das Fördern der Karriere des Bruders.

Was die Eliten versäumten, nahm der FC Valencia, ohne zu zögern, an. Die Jevtic', die sich bereits seit 2002 El Maestro nannten, "der Meister", zogen 2004 in den Osten der iberischen Halbinsel. Neue Kultur, neue Sprache. Für Nikon kein Problem. Er verzückte auch bei seinem neuen Klub und es galt allen als gesichert, dass da ein kommender Weltstar zauberte, Jahre bevor er als Profi gegen einen Ball getreten hatte.

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Draxler ist besser

Er legte stundenlange Extraschichten mit seinem Bruder ein, im Team beäugte man den neuen Star, der kein Spanisch konnte, mit Misstrauen. Das war ihm egal, Nikon wollte nur kicken. Auf Videos sieht man, wie er mit strahlenden Augen zur Eckfahne rennt und sich das Trikot auszieht, so wie er es bei den Großen so oft gesehen hatte. Er führte den Nachwuchs der Fledermäuse von Sieg zu Sieg. Dennoch kam es 2004 erneut zum Wechsel. Weil die Presse in Spanien aggressiv auftrat – und weil sein Bruder eine neue Chance witterte. Bei Schalke 04.

In Gelsenkirchen wurde Nestor, der immer von einer Trainerkarriere geträumt hatte und sich schon mit 18 bei West Ham beworben hatte, Co-Trainer von Mirko Slomka bei den Profis. Ein unfassbarer Schritt, der den Hauptgrund für den Wechsel nach Deutschland darstellte. Auch aus Schalker Sicht machte das Geschäft Sinn. Man bekam einen für sein Alter erfahrenen Trainer, der schon bei Juventus, Austria und Valencia tätig gewesen war, und oben drauf eines der größten Talente Europas.

Bei Schalke merkte Nikon zum ersten Mal, dass es ein Limit gibt. Er war nicht mehr der mit Abstand Beste. "Nikon war in der Prä-Pubertät sehr talentiert. Am Ende hat es nicht gereicht. Bei Schalke hat er mit Julian Draxler zusammengespielt. Da merkt man, dass es andere gibt, die auch Fußball spielen können", sagte Bruder Nestor den Salzburger Nachrichten.

Chance unter Stöger

Der Star und der noch talentiertere Spieler war Draxler. El Maestro eckte an, war in einem fast ausschließlich deutschen Team ein Sonderling, ein schräger Vogel, dessen Vita ebenso bunt war wie sein Auftreten. Nach zwei Jahren ging es zurück in die gewohnte Umgebung, zurück zur Austria nach Wien.

Keirrison: Glück währt nicht ewig

Nestor zog mit Slomka zu Hannover weiter (heute ist er Co-Trainer von Thorsten Fink bei Austria Wien) und Nikon streifte wieder das violette Trikot über, in dem er einst zum Wunderkind geworden war. 2010/11, inzwischen war er 17, schoss er in der österreichischen U18-Liga in 20 Spielen 14 Tore. Eine Aussicht auf Einsätze bei den Profis hatte er dennoch nicht. Zu schmal sei er, zu leicht zu durchschauen.

Also wechselte er mit 18 zum SC Wiener Neustadt. Dort wollte er endlich durchstarten. Sein Trainer damals war der heutige Köln-Coach Peter Stöger. "Er hat von uns zum ersten Mal eine Chance bekommen, im Profigeschäft Fuß zu fassen. Ich habe zu Beginn gesagt, das Entscheidende für ihn wird sein, ob er es schafft, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren", sagte der gegenüber der Kronen Zeitung. "Das ganze Rundherum, das ihn als Wunderkind für die Medien so modern gemacht hat, war kontraproduktiv. Bei uns hat er die Möglichkeit gehabt, ganz normal zu arbeiten und in einen Profikader integriert zu werden."

Karriereende mit 23

Er trainierte mit den Profis, zeigte gute Ansätze und tat, wie ihm geheißen: Er konzentrierte sich auf das Wesentliche. Tausende Kilometer entfernt starb Amy Whinehouse, die ebenfalls viele Kilometer entfernt zuvor in Belgrad ausgebuht worden war, weil sie stark angetrunken auf der Bühne erschienen war. Tausende Kilometer entfernt verunglimpfte Chelsea Handler das serbische Volk – und El Maestro, der Magier auf dem Platz, der Meister mit dem Ball, tat das, was man in seinem Alter eben manchmal macht. Er schlug deutlich über die Stränge. Auch wenn er das Video mit dem Skandal-Rap bald löschte, war es zu spät. Der Verein entschied einstimmig, ihn zu feuern, auch wenn einige österreichische Medien forderten, ihm eine zweite Chance zu geben.

El Maestro entschuldigte sich, das Ganze sei ein Spaß gewesen, niemand sei anti-rassistischer als er – und war dennoch plötzlich vereinslos. Auch wenn er nach zwei Monaten in Ungarn unterkam: In Tritt kommt er nie mehr. Er war nicht in Form, schaffte es bei keinem seiner kommenden Engagements, zu überzeugen. 2014 war er in der siebten österreichischen Liga angekommen.

Eine umfangreiche Schulbildung hat er nicht, setzte er doch alles auf die Karte Profifußball. Im Oktober 2016 beendete er seine Karriere mit nur 23 Jahren dann endgültig. Heute arbeitet er für die Post und nebenbei als Jugendtrainer. Er verschickt Briefe in die weite Welt – die Welt, in der er, der Knirps von einst, selbst hätte spielen können, wären einige Dinge anders gelaufen.

Und so bleiben ihm nur der Konjunktiv in all seiner grausamen Vielfalt der Möglichkeiten und wenige, kleine Fetzen Ruhm: einige unscharfe Clips auf YouTube und einige Artikel in den Nachrichten-Archiven dieses Planeten.

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