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Kicken statt Tanzen: Die Zwillingsbrüder Miranchuk mischen Russlands Fußball auf


HINTERGRUND 
Es sollte ein Großangriff auf die Meisterschaft und zugleich ein weiterer Schritt Richtung europäischer Spitze werden. Zenit Sankt Petersburg investierte in diesem Sommer 85 Millionen Euro in neue Spieler – mehr als doppelt so viel wie alle anderen Vereine der russischen Premjer Liga zusammen. Die Petersburger verpflichteten allein fünf Argentinier, darunter bekannte Namen wie Leandro Paredes und Matias Kranevitter, und lotsten zudem die halbe Mannschaft von Bayern-Bezwinger FK Rostov in die Nord-Metropole.

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Doch nach 17 Spieltagen steht ein anderer Klub an der Tabellenspitze. Lokomotive Moskau gab im Sommer nur 4,2 Millionen für neue Spieler aus und thront dennoch vor dem schwerreichen Gazprom-Schützling. Vor zwei Wochen führten die Hauptstädter Zenit im direkten Duell sogar regelrecht vor, gewannen mit 3:0. Die überragenden Akteure auf dem Platz: Nicht etwa Auslandsprofis, wie sonst so häufig in der Premjer Liga der Fall, sondern zwei russische Buben, die nur auf den ersten Blick normal daher kommen. Es sind die Zwillingsbrüder Aleksey und Anton Miranchuk.

Vom Dwor ins Stadion

Die beiden 22-Jährigen sind momentan das Highlight der Liga, ein Paradebeispiel für die wundervollen Geschichten, die der Fußball schreibt. Schon allein deswegen, weil sie auf dem Platz kaum von einander zu unterscheiden sind, dem Zuschauer auf der Tribüne ein Lächeln abringen, wenn dieser die beiden erneut verwechselt.

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An der Hälfte aller Tore des Eisenbahnklubs in dieser Saison waren die Miranchuks direkt beteiligt, sind somit der Hauptgrund dafür, dass Lokomotive dem Finanz-Giganten aus dem Norden trotz geringerer Mittel so eindrucksvoll die Stirn bietet. Ihre familiäre Bindung, die sich im blinden Verständnis auf dem Rasen äußert, sorgt für Begeisterung. Die Zwillingsbrüder sind etwas Besonderes, darin ist sich Fußball-Russland einig.

Beide stammen aus der Jugend von Lokomotive und sind seit der Geburt in der Kleinstadt Slawjansk-na-Kubani, die in der Nähe der durch den Ukraine-Russland-Konflikt berühmt gewordenen Halbinsel Krim liegt, ein Herz und eine Seele. "Wir haben in absolut allem denselben Geschmack, ob Kleidung, Frauen oder Autos. Doch selbst als wir einmal in der Schulzeit in das selbe Mädchen verliebt waren, haben wir uns nicht gestritten. Niemand kann sich zwischen uns stellen", erklärt Aleksey, der zehn Minuten älter ist als sein Bruder, mit einem Lächeln auf den Lippen. Nur auf dem Bolzplatz vom Dwor, dem Hof des Häuserblocks, wo viele russischen Kinder und Jugendliche ihre Freizeit verbringen, mussten die beiden öfters gegeneinander antreten. "Wir waren immer die beiden Teamkapitäne. Die anderen wollten nicht, dass wir zusammenspielen", erinnert sich Aleksey.

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Später ging es gemeinsam zum in Slawjansk ansässigen Klub "Olymp", dann im Alter von 15 Jahren in die Akademie Spartak Moskaus, wo sie allerdings nach kurzer Zeit als zu schmächtig eingeschätzt und weggeschickt wurden. Lokomotive Moskau erkannte hingegen das große Talent der beiden, nahm sie auf.

Anton sammelte in Estland Spielpraxis

Doch die Wege der beiden sollten sich bald zum ersten Mal trennen. Aleksey machte schneller Fortschritte als sein Bruder, wurde in den Profikader beordert, während Anton noch immer in den Jugendauswahlmannschaften kickte. Als Aleksey 2015 zum besten jungen Spieler in Russland gewählt wurde, hatte Anton noch nicht einmal sein Ligadebüt gefeiert, nur für einen Kurzeinsatz im Pokal hatte es gereicht.

Wenig später wurde er nach Estland zu Levadia Tallinn verliehen, um Spielpraxis im Profibereich zu sammeln. Eine schwierige Zeit. "Das war anfangs sehr hart. Wir haben immer geskypt und ich konnte ihm ansehen, dass es für ihn alleine in einer völlig neuen Stadt und Mannschaft nicht einfach ist", erklärt Aleksey. Doch nach und nach akklimatisierte sich Anton im Norden, wurde Stammspieler und einer der besten Scorer der estnischen Meistriliiga. Mit einem Empfehlungsschreiben von 14 Saisontoren und neun Vorlagen kehrte er im Winter 2016 zu Lokomotive zurück, was zunächst für große Verwirrung im Team sorgte, wie sich Anton erinnert: "Wir wurden ständig verwechselt. Selbst von unserem Trainer Yuri Semin."

Gut vier Monate später erfüllte sich schließlich der große Traum der Zwillingsbrüder, als beide am 28. Spieltag gegen FK Orenburg erstmals in einer Ligapartie gemeinsam auf dem Platz standen. Seitdem sind Anton und Aleksey das Traum-Duo der Liga. Während Aleksey gleich hinter der Spitze spielt und vermehrt selbst den Torabschluss sucht, ist Anton eher der Vorbereiter, agiert deutlich tiefer. So wurden vier seiner insgesamt sieben Ligatore Aleksey in dieser Saison vom Zwillingsbruder aufgelegt.

Wenn es nach ihrer Mutter gegangen wäre, ständen die beiden heute übrigens nicht auf dem Fußballplatz. "Als es darum ging, welche Aktivitäten wir neben der Schule ausüben, hatte unsere Mutter vor, uns zum Tanzen schicken. Aber diesen Gedanken haben wir ihr schnell ausgetrieben und uns für den Fußball entschieden", erinnert sich Aleksey. Zum großen Glück von Lokomotive Moskau.

Balsam für die russische Fußball-Seele

Doch der Aufstieg der beiden Zwillingsbrüder ist nicht nur für den Eisenbahnklub von großem Wert, sondern auch für die kriselnde russische Nationalmannschaft, die eher schlecht als recht zur Heim-WM torkelt. Wie groß er ist, war in der Länderspielpause im Testspiel gegen Spanien (3:3) zu sehen. Aleksey brillierte, erzielte ein Tor und legte einen weiteren Treffer auf, half der Sbornaja gegen ein Weltklasseteam somit zweimal, einen Rückstand zu egalisieren.

So viel Moral und Kampfgeist sind die russischen Anhänger von ihrer Mannschaft eigentlich nicht gewohnt. Der Glaube an den heimischen Fußball ist nach den enttäuschenden letzten Jahren so gering wie nie. Bei der Heim-WM erwarten die meisten ein Debakel. Russische Fußballer, besonders die jungen, haben in der Bevölkerung einen schlechten Ruf, gelten als überbezahlt, faul und unprofessionell. Vielen Fans fehlt daher die Identifikation mit der Sbornaja.

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Aleksey Miranchuk jubelt gegen Spanien

Dass nun ausgerechnet zwei junge russische Burschen die Liga dominieren und auch in der Nationalmannschaft für frischen Wind sorgen, lässt den Glauben an den heimischen Fußball wieder etwas aufleben. "Sie haben Manieren und die richtige Arbeitseinstellung. Ihnen steht eine große Zukunft bevor", sagt der langjährige Nationalspieler Dmitri Sychev.

Übrigens: Zwillinge sind im russischen Fußball kein seltenes Phänomen. Mit Kyrill und Dmitri Kombarov spielt ein weiteres Paar bei Spartak Moskau und die Zwillingsbrüder Berezutski von ZSKA Moskau waren länger als ein Jahrzehnt prägende Gesichter in der Nationalmannschaft, absolvierten zusammen mehr als 150 Länderspiele. "Man kann schon sagen, dass wir im Nationalteam nun den Staffelstab von ihnen übernommen haben", sagt Aleksey. 2008 zogen die Berezutskis mit Russland ins EM-Halbfinale ein. Ein solches Ergebnis bei der Heim-WM würden die Brüder Miranchuk sofort unterschreiben.

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