Julian Pollersbeck Hamburger SVGetty Images

Jovanovs HSV: Sündenbock Pollersbeck?


KOLUMNE

Ich habe Markus Gisdol selten so angefressen erlebt wie nach der 0:2-Niederlage seines Hamburger SV beim FC Schalke 04. Eigentlich ist der 48-Jährige ein kontrollierter, meist sehr klar auftretender Trainer. Allerdings wirkt er in letzter Zeit zunehmend gereizt. Kein Wunder nach der inzwischen neunten Niederlage (inklusive DFB-Pokal-Aus) im dreizehnten Pflichtspiel. "Ich bin nicht zufrieden, wenn wir ein gutes Spiel machen, aber zum Schluss nichts haben. Das reicht mir nicht", hat Gisdol am Tag danach gesagt. Intern fiel die Ansage deutlicher aus.

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Das Problem: Während seine Mannschaft sich vor allem in der vergangenen Rückrunde regelmäßig zu Höchstleistungen motivierte, fehlen im Moment die letzten Prozent Anspannung. Offenbar funktioniert der HSV nur dann wirklich gut, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht. So auch vor zwei Wochen im Spiel gegen den VfB Stuttgart. Alle vier, fünf Wochen zu gewinnen reicht in Hamburg inzwischen aus, um sich anschließend feiern lassen zu können. Anspruch und Erwartungshaltung? Im Umfeld des Klubs ohnehin nicht mehr vorhanden.

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Pollersbeck: Mehr Eigenantrieb gefragt

An dieser Wohlfühloase - gutes Geld, kaum bis gar keine Kritik und ständig Alibis außerhalb des Platzes - sind bereits viele Trainer gescheitert. Gisdol versucht dieser Entwicklung mit harten Maßnahmen entgegenzuwirken. Er scheut Konflikte überhaupt nicht und setzt den einen oder anderen schon mal auf die Tribüne, wenn Leistung oder Einstellung nicht stimmen. Zwar nicht immer konsequent, aber niemand darf sich seines Stammplatzes dauerhaft sicher sein. Auch Kapitän Gotoku Sakai hat das schon erlebt.

Auf den ersten Blick wirkt es aber unverständlich, wenn es einen Spieler trifft, der in dieser Saison noch nicht eine Minute auf dem Platz stand und für die Ergebnisse in der Bundesliga nicht verantwortlich gemacht werden kann. Die Entscheidung, Julian Pollersbeck für das Spiel gegen den FC Schalke 04 nicht in den Kader zu nehmen, weil er zuletzt ein paar Tage krank gefehlt und Tom Mickel besser trainiert habe, sorgt nämlich automatisch für Diskussionen. Unnötige Diskussionen, wie ich finde. Denn auf der Position des zweiten (!) Torhüters eine Baustelle aufzumachen, ist mehr als überflüssig. Zumal Pollersbeck schon vor einigen Wochen in den Fokus der Kritik geraten war und sich gegen das Image verteidigen muss, im Training nicht genügend Ehrgeiz zu versprühen.

ONLY GERMANY Julian Pollersbeck Germany U21ImagoPollersbeck wurde im Sommer 2017 zum besten Torwart der U21-EM

Die Botschaft sei jedoch bei ihm angekommen und hat Wirkung gezeigt. Umso verwunderlicher, warum Gisdol nun so handelt, findet auch sein Berater Roman Rummenigge. "Julian hat in den vergangenen Wochen durch intensives Training und Umstellung seiner Ernährung konstant körperliche Fortschritte erzielt und damit signalisiert, dass er um seine Chance kämpfen will. Man hat ihm zu jeder Zeit das Gefühl vermittelt, dass er sich wieder rein kämpfen kann. Die Nichtberücksichtigung für das Spiel aufgrund einer kurzen krankheitsbedingten Pause halte ich daher für nicht nachvollziehbar. Sie wirkt eher wie eine Bestrafung, obwohl Julian sich weder mangelnden Einsatz vorwerfen noch etwas anderes zu Schulden kommen lassen hat", sagte der 34-Jährige im Gespräch mit uns.

Auch ich werde das Gefühl nicht los, dass Pollersbeck ein wenig als Sündenbock herhalten muss. Auslöser für das gestörte Verhältnis zwischen dem U21-Europameister und seinem Trainer war eine unbedachte Aussage, die der junge Torhüter vor einiger Zeit in einem Interview tätigte. "Beim HSV wird weniger trainiert als in Kaiserslautern. Wir sind angehalten, aus eigenem Antrieb mehr zu machen", hatte Pollersbeck gesagt. Und damit unfreiwillig eine Diskussion über die Trainingsarbeit Gisdols entfacht, der sich schon in Hoffenheim mit diesem Vorwurf auseinandersetzen musste. Nur kurze Zeit später sickerten Informationen über Pollersbecks Fitness-Zustand und nächtliche Ausflüge an die Öffentlichkeit. Zufall?

Kritik von Ex-Torwarttrainer Ehrmann

Sportchef Jens Todt versucht derweil seine Neuverpflichtung des letzten Sommers in Schutz zu nehmen: "Wir sehen keinen Anlass dazu, an Julians Professionalität zu zweifeln. Richtig ist, dass er bei uns einen schwierigen Start hatte und sich als Herausforderer von Christian Mathenia zunächst nicht durchsetzen konnte. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es seine erst zweite Saison als Profi ist. Auch Julian steht eine gewisse Eingewöhnungszeit zu. Er macht körperliche Fortschritte und ist auf einem guten Weg." Also alles nur halb so wild? Nicht wirklich. Denn an den Fall Pollersbeck knüpfen sich viele Fragen an, die mit der oft thematisierten Wohlfühloase beim HSV zu tun haben.

Kaiserslautern Torwart-Trainer Gerry Ehrmann sagt: "Wenn Julian richtig hart trainiert, dann ist das alles in Ordnung, von der Körpergröße her und fußballerisch. Aber man muss ihm zwei Mal die Woche den Arsch aufreißen, weil er von sich aus nichts macht." Sind die Vorwürfe in Richtung Trainingsintensität doch zutreffend? Oder wird beim HSV nur "wissenschaftlicher" trainiert? Falls ja, hat es bei Pollersbeck bisher nicht viel gebracht. Es geht allerdings auch um etwas anderes: Warum bietet die Umgebung des HSV wiederkehrend die Möglichkeit (ich denke dabei an Valon Behrami oder Alen Halilovic), dass negative Charaktereigenschaften wie Bequemlichkeit so zur Entfaltung kommen?

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