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Portugal im Finale: Leben und Tod des Minimalismus

"Typisch für die Kunstform des Minimalismus ist das Reduzieren auf einfache und übersichtliche Grundstukturen", heißt es in der Definition des Begriffes. Quasi das viel zitierte Pferd, welches nicht höher springt, als es muss. Den Fans der portugiesischen Nationalmannschaft dürfte diese Metapher durchaus bekannt vorkommen. Fünf Spiele, fünf Remis – ohne einen Sieg nach 90 Minuten plötzlich im Halbfinale der Europameisterschaft.

Und so machte die Darbietung in der ersten Halbzeit gegen Wales nur wenig Hoffnung, dass die Minimalisten von der iberischen Halbinsel ihre Marschroute geändert haben könnten. Viel Magerkost, hier mal ein Trick von Cristiano Ronaldo, da mal ein kleines technisches Schmankerl von Nani. Mehr nicht. Vieles deutete darauf hin, dass die Portugiesen auch im dritten K.o.-Spiel den beschwerlichen Weg über die Verlängerung oder gar das Elfmeterschießen gehen müssten.

Das andere Gesicht der Portugiesen

Doch in der Kabine schien etwas passiert zu sein: Trainer Fernando Santos, der zumeist mit einer scheinbaren Gleichgültigkeit an der Seitenlinie steht, um Sekunden später vulkanartig auszubrechen, hat offensichtlich die richtigen Worte an seine Spieler gerichtet. Besonders sein Superstar war nach dem Seitenwechsel wie aufgedreht und netzte mit einem unwiderstehlichen Kopfball ein. Es war sein neunter Treffer bei einer Europameisterschaft. Plötzlich kein Minimalismus mehr, kein Herumtaktieren. Endlich.

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Die leidenschaftlichen Waliser zeigten die Stärken, mit denen sie bei diesem Turnier Geschichte geschrieben hatten: Kampf, Tempo, Gareth Bale. Das Anrennen wurde diesmal nicht belohnt. Auf der anderen Seite legte die Santos-Elf, die mit so viel technischer Eleganz gesegnet ist, ihr biederes Kleid ab, konterte sehenswert und zeigte, dass viel mehr in ihr steckt, als sie im Verlauf des Wettbewerbs über weite Strecken zu leisten vermochte.

"Mit einem Knall aufhören"

"Ich hoffe, ihr seht mich am Sonntag Freudentränen weinen. Es ist ein Traum. Wir sind nah dran und hoffen, dass wir gewinnen", erklärte ein sichtlich gerührter CR7 im Anschluss an die Begegnung. Der dreimalige Weltfußballer schob nach: "Wir wussten dass es ein harter Weg wird. Aber wir haben immer daran geglaubt. Es ist immer besser, schwach zu starten und mit einem Knall aufzuhören."

Ehrliche Worte, Worte die hinter die stets perfekt gepflegte Fassade des polarisierenden Ausnahmekönners blicken lassen. Obwohl bereits zwölf Jahre zwischen dem Sieg gegen Wales und der Final-Niederlage 2004 im eigenen Land liegen, wirkt die Wunde, die seitdem im Herzen Ronaldos klafft, frischer denn je. Damals verlor das Ensemble überragender Individualisten überraschend gegen ein von Trainer Otto Rehagel geschultes Mauerwerk namens Griechenland. Ein 19-jähriger Youngster, der mit seinen Anlagen dazu berufen schien, den Fußball zu revolutionieren, weinte bittere Tränen, war untröstlich.

Nun, mit 31 Jahren, hat er die vielleicht letzte Chance, seiner ruhmreichen Karriere die endgültige Krone aufzusetzen. Aber: Im Finale geht es – bei allem gebührenden Respekt für Wales oder Griechenland – entweder gegen Deutschland oder Frankreich und damit gegen ein anderes Kaliber. Die bisher so defensiven und irgendwie tristen Portugiesen werden mit der minimalistischen Ausrichtung, die sie fünf Spiele lang (die zweiten Hälften gegen Ungarn und Wales herausgerechnet) an den Tag legten, große Probleme bekommen.

Das Potenzial, dem Weltmeister oder dem Gastgeber, die Stirn zu bieten, ist vorhanden. Letztlich hängt es an den Ronaldos und Nanis, dies nachhaltig zu beweisen. Deshalb der Appell: Tod dem Minimalismus, es lebe das Fußball-Fest.

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