Toni Kroos Thomas Muller Germany Poland European Championship 16062016Getty Images

DFB-Team gegen Polen: No risk, no fun

Jerome Boateng wollte gar nicht drumherum reden. "Wir spielen bis ins letzte Drittel sehr gut. Dann kommen wir aber nicht am Gegner vorbei, werden nicht gefährlich. Das müssen wir verbessern, sonst kommen wir nicht weit", schimpfte der Innenverteidiger in den Katakomben des Stade de France. Boateng war bitter enttäuscht, auch seine Kollegen von der deutschen Nationalmannschaft machten lange Gesichter in der Mixed Zone nach dem 0:0 gegen Polen.

Am Donnerstagabend war Deutschland zwar spielerisch überlegen, zwingend wurde das Team von Joachim Löw aber nicht. "Wenn man realistisch ist, muss man mit dem Punkt zufrieden sein. Nach vorne haben wir kaum Lösungen gefunden", befand der Bundestrainer. Seine Mannschaft hatte trotz 70 Prozent Ballbesitz nur drei Mal aufs Tor von Lukasz Fabianski geschossen.

Boateng meinte gar, man könne "froh sein, dass es 0:0 ausgegangen" ist. Schließlich vergab Arkadiusz Milik kurz nach der Pause die hundertprozentige und damit mit Abstand beste Chance der Partie zur Führung. "Das war eine Schrecksekunde. Da hatten wir Glück, dass wir nicht in Rückstand geraten sind", musste auch Thomas Müller zugeben. Zudem hätte Robert Lewandowski treffen können. Erst im letzten Augenblick hinderte Boateng seinen Teamkollegen mit einer Heldentat am Abschluss aus aussichtsreicher Position (59.).

Artikel wird unten fortgesetzt

"Nicht immer versuchen, der bessere Bundestrainer zu sein"

Deutschland indes wurde nur drei Mal richtig gefährlich: Toni Kroos verzog jedoch nach Müller-Vorarbeit knapp (16.), Mario Götze schoss aus spitzem Winkel zu harmlos aufs polnische Tor (47.) und Mesut Özil scheiterte an Fabianski (69.). Ansonsten: Viel Ballgeschiebe, wenig Ertrag, keine Durchbrüche. "Die ersten 15 Minuten waren unsere beste Phase, was das Spiel nach vorne betrifft. Ansonsten hatten wir viel Ballbesitz und haben immer wieder die Lücken gesucht. Die zündende Idee hat aber gefehlt", meinte Müller. Und die Lücken haben sie nicht gefunden.

So gehe man mit "gemischten Gefühlen" ins Bett. Wie schon im ersten Spiel gegen die Ukraine war Müller genauso wie seine Offensivkollegen Götze, Mesut Özil und Julian Draxler weit hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. "Ich persönlich bin nicht zufrieden", sagte der Münchner: "Dabei stört mich gar nicht die Tatsache, dass ich noch kein EM-Tor geschossen habe, sondern viel mehr, dass ich mir in den letzten beiden Spielen mit dem Team zusammen keine wirkliche Tormöglichkeit erarbeiten konnte. Daran haben wir zu knabbern." 

Zu knabbern hatte auch Mario Gomez, der erneut mit der Bank Vorlieb nehmen musste. Erst nach 71 Minuten kam die "echte Neun" für Draxler. Dabei hätte doch gerade der frühere Stuttgarter und Münchner Bundesliga-Profi in diesem zähen Spiel für mehr Durchschlagskraft sorgen können. Oder etwa nicht? "Das ist doch hypothetisch. Wir wissen es nicht, ob es besser oder schlechter gelaufen wäre. Ich glaube, wir müssen nicht immer versuchen, der bessere Bundestrainer zu sein. Er ist schon gut, also lassen wir ihn machen. Er wird schon das Richtige tun", meinte Gomez auf Goal-Nachfrage. 

Müller wünscht sich Bayern-Akteur

Nachdem die deutsche Defensive im Auftaktspiel in der Schlussviertelstunde des ersten Durchgangs gehörig gewackelt hatte, setzte Löw gegen Polen auf noch mehr Kontrolle - zu Lasten der Kreativität. "Polens größte Stärke ist der Konter, das wollten wir natürlich verhindern. Es ist immer eine Risikoabwägung: Machst du vorne Hauruck mit der Gefahr auf Ballverlust und Gegenzug? Oder spielst du doch lieber nochmal den Rückpass, wenn es eng wird, und bleibst in Ballbesitzt?", erklärte Müller gegenüber Goal. Deutschland spielte lieber nochmal den Rückpass.

Polen zog sich oftmals mit zwei eng gestaffelten Viererketten weit zurück, und stellte eine kreativlose deutsche Auswahl damit vor enorme Probleme. "Sie können verteidigen, das wussten wir. Dazu haben sie vorne brandgefährliche Spieler. Deswegen konnten wir auch nicht alles nach vorne werfen, weil du immer nach hinten die Absicherung brauchst. Wir wollten eigentlich mehr, aber wir konnten nicht", erklärte Gomez.

Müller vermisste derweil seine Teamkollegen vom FC Bayern. "In der Offensive haben wir in Deutschland nicht den Eins-gegen-eins-Spieler, um Abwehrbollwerke zu knacken, wie wir ihn beim FC Bayern haben. So ein Spieler fehlt vielleicht, den können wir aber jetzt nicht herzaubern", sagte der 26-Jährige. Durchaus beachtlich, schließlich hat Deutschland durchaus Spieler, die in der Lage sein sollte, über die Flügel Durchbrüche zu erzielen. Etwa Andre Schürrle oder auch Leroy Sane.

"Es ist nicht mehr so wie früher"

Für Gomez ist Deutschland trotz des 0:0 "immer noch die Mannschaft, die hier den besten und spritzigsten Eindruck macht". Er gab zu bedenken: "Wenn man Wales oder Nordirland ließt, denkt man sich vielleicht: Krasser Außenseiter. Die Jungs spielen aber auch alle in der Premier League oder in anderen guten Ligen. Es ist nicht mehr so wie früher, dass man die 5:0 wegputzt. Die können alle gut verteidigen und 90 Minuten sprinten, sie haben Power."

Schieße man dann kein schnelles Tor, werde es eben ein zähes Spiel. "Das hat man zwei Mal bei Frankreich und auch heute bei uns gesehen. Nur weil wir Weltmeister sind, heißt das nicht, dass wir jeden Gegner an die Wand spielen. Bei dieser EM zählt wirklich jeder Punkt, gerade weil du hier als Gruppendritter weiterkommen kannst. Es ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellt."

Letztendlich waren sich Löw und seine Akteure einig: Gegen tiefstehende Gegner muss man Lösungen finden, dieser Satz war immer wieder zu vernehmen aus dem Lager der DFB-Elf. Ohne Bereitschaft zum Risiko allerdings, findet man auch keine Lösungen. No risk, no fun.

Folge Niklas König auf

Goal-Journalisten werden ausgestattet mit dem Samsung Galaxy S7 und Gear 360

Werbung