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Wesley Sneijder bei OGC Nizza: Des Architekten neue Säule


HINTERGRUND

Es war eine andere Fußball-Epoche, als Javier Zanetti kurz hinter der Mittellinie seine überragende Antizipation unter Beweis stellte und im altehrwürdigen Stadio Luigi Ferraris, der Heimspielstätte des CFC Genua, den Ball eroberte. Der Kapitän von Inter Mailand ermöglichte es Wesley Sneijder so, loszuziehen und den Ball genau im richtigen Moment auf die entblößte rechte Seite durchzustecken, wo Inters Mittelstürmer den Ball mit dem ersten Ballkontakt im Tor unterbringt. Sieben Sekunden dauerte die ganze Aktion, vollendet wurde sie von einem damals als Megatalent geltenden Shootingstar namens Mario Balotelli. 

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Fast acht Jahre sind seit jenem Oktobertag 2009, an dem Inter am Ende mit 5:0 gewann, vergangen. In der schnelllebigen Fußballbranche eine halbe Ewigkeit. Inter war damals eine der besten Mannschaften Europas, gewann am Ende jener Saison unter der Ägide Jose Mourinhos das Triple. Bei Bayern standen Spieler wie Braafheid, Baumjohann oder Ottl im Kader und bei Real Madrid hatten gerade Karim Benzema und Cristiano Ronaldo angeheuert. 

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Heute ist also alles anders, Profis von heute waren damals zum Teil noch Grundschulkinder. Die zwei Protagonisten des perfekten Angriffs zum 2:0 gegen Genua aber, sowohl Vorlagengeber als auch Vollstrecker, sind noch da. Und spielen in der kommenden Saison wieder zusammen Fußball. Beim OGC Nizza, wohin Sneijder am Montag wechselte. 

Fader Beigeschmack bei einem großen Spielmacher

33 ist der Niederländer mittlerweile alt, vom Leistungsniveau vergangener Tage, als viele ihn in als eigentlichen Weltfußballer des Jahres 2010 sahen, weit entfernt. Als er neben den großen Erfolgen mit Inter auch noch die niederländische Nationalmannschaft ins WM-Finale gegen Spanien führte, das die Elftal mit 0:1 verlor.

Die ganz große Karriere blieb irgendwie aus. Obwohl Sneijder ein absoluter Ausnahmefußballer ist. Obwohl er in jener Saison an die ganz großen Spielmacher der Fußball-Geschichte erinnerte. Wie er so leichtfüßig dribbelte, gefühlvoll schlenzte und chirurgisch passte. Bei Real Madrid aber wurde er nicht der Galaktische, den man sich bei der Zahlung von 27 Millionen Euro an Ajax erhoffte. Es folgte Inter und schließlich Galatasaray. Dort liebten ihn die Fans, ein fader Beigeschmack aber bleibt. Jetzt, wo er Istanbul den Rücken kehrt. Denn man wird das Gefühl nicht los, als habe er, der ein so großer Regisseur sein kann, sein Potenzial am Bosporus ein wenig verschenkt.

Favre sind große Namen egal

Nun also Nizza als vielleicht letzte größere Karrierestation, ehe es Sonne in den USA oder Millionen in China gibt. Was andere als Auslaufenlassen der langen Karriere eines Altstars an der Cote d'Azur deuten würden, ist vielmehr eine der spannendsten Konstellationen des europäischen Fußballs. Denn bei OGC trifft er nicht nur auf den ehemaligen Weggefährten Balotelli, sondern auch auf Lucien Favre, diesen Schweizer Großmeister, der in der vergangenen Saison lange den Traum von der Sensations-Meisterschaft am Leben erhielt und der eine exquisite Fußballmannschaft in der Sonne Südfrankreichs kreiert hat.

Sneijder und Co.: Die teuersten Niederländer aller Zeiten

Favre ist ein Taktik-Liebhaber und Großmeister, der Wert in der von ihm erdachten Maschinerie ist für ihn immer wichtiger als der Name der Akteure. Beide, Balotelli und nun auch Sneijder, hätte er nie im Leben geholt, wenn er nicht einen Plan mit ihnen hätte. Wie der aussah - und aufging – konnte man beim Italiener in der vergangenen Saison bestaunen. Obwohl wegen Sperren und Verletzungen nur 23-mal auf dem Platz, netzte er 15-mal ein.

Zu gern würde man einen Blick in Favres Papiere werfen, in denen er, so viel ist sicher, Sneijder bereits, von Pfeilen untermalt, einen festen Platz gegeben hat. Denn der 131-malige niederländische Nationalspieler ist vom Fußballrentnerdasein noch ein gutes Stück entfernt. Noch immer tritt er messerscharfe Standards. 20 Scorerpunkte legte er in der vergangenen Saison in 28 Spielen auf – ein starker Wert. Und noch immer blitzt es in seinem unter dem inzwischen gänzlich kahlen Kopf auf, dieses fußballerische Genie, das in 30-Meter-Pässen oder Schüssen, deren Flugkurven physikalisch aufregend daherkommen, Anklang findet.

Sneijder und Balotelli als kongeniales Duo?

Balotelli und Sneijder – was spannend klingt, ist es auch. Denn Favre ist es zuzutrauen, dass er beide zu einem Top-Duo macht, dass er eine schlagkräftige Mannschaft um die beiden Stars baut, dass er das bisher in Nizza Geschaffene weiter verfeinert und zu einem Konstrukt veredelt, das für Überraschungen sorgen kann. In der Liga und auch in der Champions League.

Es ist anzunehmen, dass Favre seine Mannschaft in einem 4-2-3-1 aufstellt, wahlweise in einem 3-5-2. Ersteres aber ist die Formation, auf die er sich bereits in den letzten Spielen der vergangenen Saison festlegte und in der er sein Team auch in der Champions-League-Quali gegen Ajax aufs Feld schickte.

Mario Balotelli Wesley Sneijder Inter 2009-2010

Koziello und Sneijder mit ähnlichem IQ

Es gibt sie also im Favre'schen System, die prädestinierte Sneijder-Rolle als Zehner. Weichen wird dafür Bassem Srarfi müssen, ein typischer Favre-Transfer, der im Januar aus Tunesien kam und der mit seinen 20 Jahren und seiner Technik als Mann der Zukunft gilt. In den Spielen gegen Ajax aber sah man ganz deutlich, dass er noch Zeit braucht. Perfekt also das Szenario, diese mit einem wie Sneijder zu überbrücken.

Im Rücken des Niederländers werden wohl Jean Michael Seri und Vincent Koziello auflaufen, zwei, die optimal zum Stil Sneijders passen. Denn Ersterer ist ein N'Golo Kante in Miniversion, ein Balljäger, ein Arbeiter, ein Eroberer. Wie damals bei Inter Zanetti absolviert er ein immenses Laufpensum und besetzt die Räume, die Sneijder entblößt, wenn es ihn auf den Flügel zieht oder er in die Spitze stößt. Noch interessanter dürfte aber das Zusammenspiel mit Koziello werden.

Der 21-Jährige, der immer ein wenig so aussieht wie ein 15-Jähriger, der direkt vom Abschlussball auf den Platz kommt, ist ein Hochbegabter, einer, den Favre mit Hingabe fördert. Er hat ein gutes Auge, ist technisch eine Augenweide. Er könnte in der Lage sein, in ähnlichen fußballerischen Sphären zu schweben, in denen Sneijder, oft unverstanden, wegen seines Fußball-IQs stets schwebte.

Das Neue ist komplett

"Unser Problem wird sein, dass wir noch weit davon entfernt sind, komplett zu sein", hatte Favre noch Ende Juli verlauten lassen. Und: "Es geht immer weiter, man darf nie stehen bleiben und muss immer wieder etwas Neues erfinden." Komplett ist Nizza jetzt mit diesem schillernden und auch ein wenig tragischen Spielmacher, mit dem jetzt eben das Neue entstehen soll, von dem der ehemalige Gladbacher spricht.

Und Sneijder? Der hat "richtig Bock auf eine neue Herausforderung", wie er verlauten ließ. Bei Real kam ihm in die Quere, dass er zu viel feiern war. "Ich war viel unterwegs. Eines Morgens wachte ich auf und dachte: 'Wesley, was machst du da?'", erzählte er einst im AS-Interview. Doch es war zu spät, die große Karriere ins Schlingern geraten. Jetzt, in den letzten Tagen, will er noch einmal das Zepter übernehmen.

Als Gereifter, Vater und Führungsspieler. Favre und Nizza kann das nur recht sein. Denn man darf sich freuen auf perfekte Angriffe wie jenen im Oktober 2009. Balleroberung, Pass Sneijder, Tor Balotelli. Sieben Sekunden zwischen dem Nichts und Ekstase. Sieben Sekunden, die über Sieg und Niederlage entscheiden können. Sieben Sekunden, die er immer noch in der Lage ist zu kreieren. Diese neue Säule des Schweizer Architekten in einem am Meer erbauten Gebäude. 

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