Ex-Supertalent Evljuskin im Interview: "Vielleicht hätte ich präsenter sein müssen"

Sergej Evljuskin galt als eines der größten Talente im deutschen Fußball. Er war der erste Nachwuchsfußballer, der die Fritz-Walter-Medaille in Gold in zwei Jahrgängen gewann. Nach ihm ist das nur einem gewissen Mario Götze gelungen. In den U-Nationalmannschaften des DFB war der heute 35-Jährige einst Kapitän von Mesut Özil, Jerome Boateng und Benedikt Höwedes.

Doch während seine damaligen Weggefährten die großen Karrieren hinlegten und 2014 sogar gemeinsam Weltmeister wurden, blieb Evljuskin der große Durchbruch verwehrt. Zwei Jahre nach der WM 2014 veröffentlichte er seine Biografie. Im Interview mit GOAL und SPOX spricht Evljuskin über seine Laufbahn, die einige Hürden zu bieten hatte, über Felix Magath und seinen heutigen Beruf als Autobahnpolizist.

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Herr Evljuskin, Sie haben schon früh in Ihrer Karriere für Furore im Jugendbereich gesorgt: So sollen Sie in der C-Jugend beim Braunschweiger SC einmal 98 Tore in einer Saison geschossen haben. Stimmt das?

Sergej Evljuskin: Ja, allerdings waren da auch Turniere und Freundschaftsspiele mit dabei. Es gab dort damals eine interne Torschützenliste von der G- bis zur A-Jugend. Und in dem Jahr bin ich der Torschützenkönig des Klubs geworden.

Für Braunschweig spielten Sie acht Jahre lang, ehe es 2003 mit 15 zum VfL Wolfsburg ging. Auch das damals sehr erfolgreiche Werder Bremen hatte Interesse an Ihnen. Wieso also der VfL?

Evljuskin: Ich habe in Bremen ein Probetraining absolviert und mir das Stadion angeschaut, aber mich für die Nähe zu meinem familiären Umfeld entschieden. Auch Hannover 96 und Eintracht Braunschweig waren wie der VfL schon längere Zeit an mir dran. Zwischen Wolfsburg und dem Braunschweiger SC gibt es bis heute eine Kooperation, es war daher einfach der logische Schritt. So konnte ich weiter in Braunschweig wohnen und dort zur Schule gehen.

Sie sind dann als B-Jugendlicher in Wolfsburg in den Kader der deutschen U16-Nationalmannschaft berufen worden. Wie erinnern Sie sich daran?

Evljuskin: Das erste Länderspiel gegen die Schweiz werde ich nie vergessen. Dass ich dort als einer von nur elf Spielern aus ganz Deutschland auf dem Platz stand, war eine riesige Ehre. Plötzlich bin ich mit 15 durch halb Europa gereist, kickte gegen Frankreich, war in Katar im Trainingslager. Da sind die Erfahrungen nur so auf dich eingeprasselt.

Sergej Evljuskin: "Von der Fritz-Walter-Medaille hatte ich nie gehört"

Und Ihre sportlichen Leistungen waren dabei so herausragend, dass Sie 2005 im U17- und 2006 im U18-Jahrgang als erster Nachwuchsspieler zweimal in Folge die Fritz-Walter-Medaille in Gold gewannen. Das ist seither nur noch Mario Götze gelungen.

Evljuskin: Von der Fritz-Walter-Medaille hatte ich zuvor nie gehört. Die wurde 2005 auch das erste Mal verliehen. Auf einmal bekam ich einen Brief und wusste erst gar nicht, um was es da eigentlich genau geht. (lacht) Mit den Medaillen stieg letztlich der Erwartungsdruck. Plötzlich hieß es: Wir haben hier Deutschlands besten Nachwuchsspieler! Da hat man im Verein natürlich viel von mir verlangt. Wir haben Sergej, der muss am Ende das Spiel entscheiden, hieß es dann.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Evljuskin: Ganz gut, würde ich meinen. Der Hype um mich war schon groß, es gab viele Journalisten, die dann etwas von mir wollten. Ich habe aber nie den Dicken markiert oder mich für den großen Star gehalten. Eher im Gegenteil, der Hype war mir fast unangenehm. Ich bin eigentlich ein bescheidener, bodenständiger Kerl.

Nach vier Jahren in der Wolfsburger Jugend unterschrieben Sie 2006 schließlich Ihren ersten Profivertrag.

Evljuskin: Das war für mich das ein Zeichen, dass der Verein mit mir plant. Ich wollte den Weg dort weitergehen, denn der führte bis dahin nur nach oben. Ich dachte mir: Jetzt geht's erst richtig los!

Als Sie unterschrieben, wurden die Profis von Klaus Augenthaler trainiert. Der musste nach einer enttäuschenden Saison jedoch gehen und es kam Felix Magath. War das ein Problem für Sie?

Evljuskin: Im Nachhinein frage ich mich schon, wie es gelaufen wäre, wenn man Augenthaler mehr Zeit gegeben hätte, um ein Team zu formen. Der Verein war aber auch sehr ambitioniert. Mit Magath kam ein neues Trainerteam mit einer anderen Denke. In der Vorbereitung durfte ich mit ein paar Jugendspielern die ersten Einheiten unter ihm mitmachen. Mehr war leider nicht drin, denn zu diesem Zeitpunkt fand auch die U19-Europameisterschaft statt - und ich war der Kapitän des Teams. Da wollte ich natürlich unbedingt teilnehmen. Ich war dann aber drei Wochen bei den Profis raus.

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Sergej Evljuskin: Ein seltsames Gespräch mit Felix Magath

Wie war während seiner Amtszeit Ihr Verhältnis zu Magath?

Evljuskin: Ich hatte einmal ein Gespräch mit ihm im Büro. Da wollte ich ihm erklären, dass wir unsere Abi-Zeugnisse überreicht bekommen und ich an diesem Tag daher nicht zum Vormittagstraining kommen kann. Der Fußball stand bei mir immer an erster, zweiter und dritter Stelle und ich habe stets jeden Termin so angepasst, dass der Fußball nicht darunter leidet. Das nun war aber ein Pflichttermin und ich wollte da schon mit dabei sein. Zur Einheit am Nachmittag wäre ich ja auch wieder dabei gewesen.

Wie hat Magath reagiert?

Evljuskin: Er sagte nur: Wenn du meinst, dass es richtig ist. Er hatte offenbar eine andere Einstellung erwartet. Danach gab es keine Berührungspunkte mehr mit ihm, weil ich dann dauerhaft Teil der zweiten Mannschaft war.

Mit der deutschen U19 scheiterten Sie im Halbfinale an Griechenland, anschließend hingen Sie bis zu Ihrem Abgang 2010 in Wolfsburgs zweiter Mannschaft fest. Ihre Weggefährten im DFB-Team wie Mesut Özil, Jerome Boateng oder Benedikt Höwedes starteten zeitgleich große Karrieren. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Evljuskin: Es hat mich natürlich geärgert, das so zu sehen: Die spielen Bundesliga und Champions League gegen Real Madrid und du spielst Regionalliga gegen Havelse. Viele meinten später zu mir, dass ich bei einem anderen Verein den Sprung auch geschafft hätte. Man braucht in diesem Alter einfach Unterstützung und Rückendeckung. Es müssen Fehler akzeptiert werden. Ihnen wurde der richtige Weg aufgezeigt, sie durften sich entwickeln. Ich habe mich in diesen wichtigen Jahren eher dem Niveau der zweiten VfL-Mannschaft angepasst. Es ist halt ein Unterschied, ob du auf Schalke bei den Profis trainierst oder in der Zweiten von Wolfsburg.

In Ihrem 2016 erschienenen Buch "Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister. Warum der Kapitän von Boateng, Özil und Höwedes heute in der 4. Liga kickt" kommt mit Peter Hyballa ein einstiger Förderer von Ihnen zu Wort und meint, Sie hätten vielleicht noch egoistischer auf Ihre Karriere blicken müssen. Wie sehen Sie es?

Evljuskin: Vielleicht hätte ich in dieser Phase präsenter sein müssen. Die Jungs waren ja alle auf demselben Level wie ich. Es gehört auch schlicht etwas Glück dazu, wenngleich ich mir schon an die eigene Nase fasse. Ich war jung, das Selbstvertrauen spielt ebenfalls eine Rolle. Bei mir ging es immer nur bergauf und dann kam plötzlich ein unerwarteter Knick. Es waren mehrere ungünstige Dinge, die zusammengekommen sind.

Wie sehr hat Ihnen diese Entwicklung psychisch zugesetzt?

Evljuskin: Es war eine Mischung aus vielen Gefühlen. In erster Linie Frust und Unverständnis, weil ich der Meinung war, dass ich auf dem Platz und auch außerhalb zum Beispiel in Sachen Ernährung nichts anders gemacht habe als zuvor. Erst hatte all das gereicht und auf einmal ist dieser Knick drin. Ich habe mich ständig gefragt, woran das liegt und was ich falsch mache. Bin ich jetzt auf einmal schlecht? Das ging mir durchaus oft durch den Kopf. Man merkte auch, dass die heile Welt in der Jugend, als Fehler verziehen wurden, durch eine knallharte Geschäftswelt ersetzt wurde. Das prallt an einem jungen Kerl natürlich nicht einfach ab, sondern nagt am Selbstvertrauen, wenn du siehst, wie die anderen um dich herum ihren Weg gehen.

Warum haben Sie Wolfsburg nicht schon vor Ihrem Vertragsende 2010 verlassen?

Evljuskin: Ich hatte schon Wechselgedanken, weil ich dachte, dass ich dort nicht weiterkomme. Anfang 2009 wurde aber Lorenz-Günther Köstner Trainer der Zweiten und unter ihm hat es wieder Spaß gemacht. Ich hoffte, dass mir bei ihm der nächste Schritt gelingt und habe den Vertrag auch wegen ihm erfüllt. Anschließend war mir jedoch klar, dass ich etwas anderes sehen und auch mal raus aus Braunschweig muss.

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Sergej Evljuskin: Von der Essener Insolvenz auf Mallorca erfahren

Ihr neuer Verein sollte Rot-Weiss Essen unter Trainer Hyballa werden. Das wäre aber in Anführung nur die 4. Liga gewesen. Warum entschieden Sie sich so?

Evljuskin: Peter Hyballa hatte mich schon ein paar Monate zuvor kontaktiert und gesagt, dass er im Sommer einen neuen Verein übernimmt. Er wollte mich haben, auch wenn ich da noch gar nicht wusste, welcher Klub es am Ende werden wird. Ich war sehr gespannt und hatte richtig Bock auf eine neue Erfahrung. Daher meinte ich nur: Trainer, ich bin dabei!

Das waren Sie am Ende allerdings nicht, denn RWE wurde vor Saisonbeginn die Lizenz für die Regionalliga entzogen. Wie haben Sie davon erfahren?

Evljuskin: Ich war mit Wolfsburg zum Saisonabschluss auf Mallorca und habe dort ein paar Leute von Schwarz-Weiß Essen getroffen. Die wussten, dass ich zu RWE wechsle und erzählten mir dann etwas von Insolvenz. Dabei habe ich mich mit Daniel Reiche, meinem besten Kumpel, der gerade beim MSV Duisburg unterschrieben hatte, schon nach einer gemeinsamen Wohnung umgesehen, weil wir eine WG gründen wollten.

Wie haben Sie auf diese vermeintlichen Neuigkeiten dann reagiert?

Evljuskin: Ich dachte erst, die sind betrunken und wollen mich veräppeln. Also habe ich meinen Bruder angerufen, damit der mal nachforscht. Leider kam heraus, dass es stimmte: RWE musste über zwei Millionen Euro auftreiben, um dem Zwangsabstieg aus der Regionalliga zu entgehen. Das klappte leider nicht, mein Vertrag war damit nichtig. Da kam ich mir schon verarscht vor.

Kurz vor Ende des Transferfensters kamen Sie dann noch bei Hansa Rostock in der 3. Liga unter - und dort gelang im ersten Jahr unerwartet der Aufstieg in die 2. Liga.

Evljuskin: Das sollte eigentlich erst im zweiten Jahr passieren, aber wir hatten ein tolles Mannschaftsgefüge und ich kam auch auf meine Einsätze, auch wenn ich kein unumstrittener Stammspieler war. Daher kam der Verein dann auch auf mich zu und schlug mir eine Leihe vor. Da ich sowieso noch mehr spielen wollte, war ich einverstanden und ging daher zum SV Babelsberg in die 3. Liga.

Weshalb war dieses Engagement nicht von Erfolg gekrönt?

Evljuskin: Das hatte zwei Gründe: Rostock stieg direkt wieder aus der 2. Liga ab, wodurch mein Vertrag seine Gültigkeit verlor. Daher bin ich eine weitere Saison in Babelsberg geblieben. Das war auch eine coole Zeit, allerdings stiegen wir im zweiten Jahr nach einer sehr umkämpften Saison ab - und auch hier war mein Vertrag dann nicht mehr gültig.

Mit dem Goslarer SC spielten Sie ab 2013 dann für eine Saison wieder in der Regionalliga, ehe Sie schließlich bei Hessen Kassel sesshaft geworden sind und sieben Jahre blieben.

Evljuskin: Dabei war es eher Zufall, dass ich nach Kassel kam. Als ich mit Goslar gegen Meppen spielte, saß Andre Schubert auf der Tribüne. Er war damals eine Art sportlicher Leiter in Kassel und schaute sich an dem Tag eigentlich einen anderen Spieler an, der witzigerweise auch Sergej hieß. Ich fiel ihm aber positiv auf und er kontaktiere meinen Berater. Ich hätte nie gedacht, dass ich so lange dort bleiben und das meine zweite Heimat würde. In Kassel lernte ich auch meine Freundin kennen.

Auch in Kassel lief es sportlich nicht immer rund, 2017 musste der Verein Insolvenz anmelden. Haben Sie sich nach Ihrer Vorgeschichte dann auch mal gefragt, was Sie eigentlich verbrochen haben?

Evljuskin: Absolut. Das kann doch alles nicht wahr sein - das geht einem dann schon durch den Kopf. Zumal der Verein ja ambitioniert war und das Ziel hatte, perspektivisch die 3. Liga anzupeilen. Es verließen dann auch viele Spieler den Klub und wir mussten mit neun Minuspunkten in die Saison gehen. Das war einfach zu viel, wir sind leider in die Hessenliga abgestiegen. Als wir nach zwei Jahren wieder oben waren, war der Verein auch finanziell wieder auf einen guten Weg. Mir war es wichtig, mit einem Aufstieg gehen zu können. Ich habe zwar noch ein halbes Jahr in der Regionalliga mitgespielt, aber bereits mein zweites Standbein gefunden.

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Sergej Evljuskin: Von der Regionalliga zur Autobahnpolizei

Dieses führte Sie nach Niedersachsen zur Autobahnpolizei. Wie kam's?

Evljuskin: Ich wusste stets, dass es auch eine Zeit nach dem Fußball gibt. Man wird ja nicht jünger. In Kassel habe ich mit einem Sportmanagement-Studium begonnen, mich aber irgendwann gefragt, was ich damit eigentlich genau machen soll. Die Fußballbranche verändert sich ja laufend. Also habe ich überlegt, welche Berufe mich noch interessieren und landete bei der Polizei. Daher habe ich mich parallel zu meinem Studium bei der Polizei beworben.

Und das Studium schließlich abgebrochen?

Evljuskin: Als ich die Zusage bei der Polizei bekam, stand ich vor der Wahl und habe sogar eine Pro- und Contra-Liste gemacht, um festzuhalten, was für mich bei beiden Wegen wirklich dafür und dagegen spricht. Da war für mich die Polizei die sichere Branche. Ich weiß ja nur zu gut, wie sehr der Fußball ein reines Tagesgeschäft ist.

Und nun sind Sie eben Polizist und spielen nebenbei in der 6. Liga, beim FSV Schöningen in der Landesliga Braunschweig. Wie blicken Sie heute auf Ihren Werdegang im Fußball zurück?

Evljuskin: Ich bin absolut glücklich, wie es gelaufen ist. Ich könnte heute Weltmeister sein, klar, aber dann wäre ich wohl auch nicht bei der Polizei gelandet. (lacht) Dafür bin ich immerhin mit der Polizei-Nationalmannschaft 2018 Europameister in Prag geworden. Mein Werdergang zwang mich ein wenig, den Fokus auch auf das Leben nach dem Fußball zu richten und meine Interessen zu verlagern. Der Fußball steht jetzt nicht mehr an erster, zweiter und dritter Stelle. Berufliche und private Dinge genießen bei mir heute einen viel höheren Stellenwert.

Gibt es etwas, das Sie bereuen?

Evljuskin: Natürlich habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht lieber nach Bremen statt nach Wolfsburg hätte gehen sollen. Oder ins Ausland, ein Funktionär von Spartak Moskau kam mal während eines Turniers mit der U18 in St. Petersburg auf mich zu. Ich bereue aber nichts, denn all meine Entscheidungen haben sich zum damaligen Zeitpunkt richtig angefühlt. Ich habe sie jeweils so gefällt, weil ich mit Herz, Kopf und Bauch dahinter stand.

Was glauben Sie, wird der Fußball noch einmal eine größere Rolle in Ihrem Leben einnehmen - vielleicht ja als Trainer?

Evljuskin: Das halte ich mir offen. Grundsätzlich kann ich mir das schon vorstellen, aber eher im Junioren- als im Seniorenbereich.

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