ICELAND UEFA EURO 27062016Getty Images

Island – das zweite Griechenland?

"Fußball ist deshalb so spannend, weil niemand weiß, wie es ausgeht", lautet eines der bekanntesten Zitate von Sepp Herberger, dem deutschen Weltmeister-Trainer von 1954. Das mag natürlich für eine einzelne Partie gelten. "Fußball ist der einzige Teamsport, in dem ein Drittligist einen Erstligisten schlagen kann", behauptete Lars Lagerbäck, Islands Trainer, gegenüber dem Scandinavian Traveller.

Um Welt- oder Europameister zu werden, braucht man allerdings nicht nur eine Überraschung, sondern gleich mehrere in Serie – so wie es Griechenland 2004 vorgemacht hat, als sich die Truppe von Trainer Otto Rehhagel in Portugal den EM-Titel sicherte. Kurz gesagt: Normalerweise weiß man nicht, wie ein Spiel ausgeht, aber bei den großen Turnieren setzen sich fast immer die großen Mannschaften – und damit die Favoriten – durch, weil die Außenseiter zwar eine Sensation, aber nicht mehrere Sensationen hintereinander schaffen können.

Griechenland trat den Gegenbeweis zu dieser These 2004 erfolgreich an. Und vielleicht folgt Island dem Vorbild der Hellenen in diesem Jahr. Die Parallelen zwischen den beiden Teams sind in jedem Fall vorhanden. Da wäre zuallererst die Ausgangslage – und damit die Einordnung in die Kategorie "Außenseiter". Vor zwölf Jahren lagen die Wettquoten für einen griechischen EM-Triumph vor Turnierbeginn bei 250 zu 1. Grund dafür war die schwere Vorrundengruppe, die das Rehhagel-Team mit Spanien, Portugal und Russland erwischt hatte.

Im Vergleich lag Islands Titel-Quote in diesem Jahr "nur" bei 80 zu 1, was zum einen am neuen Modus und dem damit verbundenen einfacheren Überstehen der Vorrunde und zum anderen an der beeindruckenden Qualifikation der Skandinavier lag. Denn auf dem Weg zum Turnier nach Frankreich siegte die Mannschaft von Lars Lagerbäck unter anderem zweimal gegen die Niederlande.

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Erfahrung auf der Bank

Ähnlich ist bei beiden Teams auch das Bauen auf einen ausländischen Trainer: Griechenland setzt schon fast traditionell auf importierte Erfahrung auf der Bank und vertraute 2004 auf den damals 65-jährigen Rehhagel. Island hat aktuell den Schweden Lars Lagerbäck als Coach, der sich die Aufgabe mit Heimir Hallgrimsson teilt. Und auch Lagerbäck hat mit seinen 67 Jahren im europäischen Fußball schon fast alles gesehen. "Ich habe sechsmal gegen England gespielt – und noch nie gegen sie verloren", stellte er schon vor dem Achtelfinale am Montag fest. Inzwischen steht der Zähler bei sieben.

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Die Außenseiterrolle und ein erfahrener Coach sind die gemeinsamen Grundlagen – was beide Mannschaften ebenfalls vereint ist der Plan, der auf dem Spielfeld konsequent umgesetzt wird. In der Rückschau wurde Otto Rehhagels Ansatz gerne belächelt, denn der deutsche Coach ließ in der Abwehr eine Manndeckung gegen den oder die gegnerischen Stürmer spielen und hielt mit Traianos Dellas einen Ausputzer in der Hinterhand, der alles abräumte, was in den Strafraum kam.

Nach dem überraschenden 1:0 zum Auftakt gegen Gastgeber Portugal stellte der Trainer auf Defensive um und seine kompakte Mannschaft wurde fast ausschließlich durch aufrückende Außenverteidiger und Standards gefährlich. Mit diesem Konzept schaltete Griechenland erst den Titelverteidiger Frankreich, dann mit den Tschechen das wohl beste Team des Turniers aus und bezwang schließlich im Finale erneut Portugal – und alle drei Spiele endeten 1:0.

Rehhagel hatte die Stärken seines Teams genau erkannt und sie mit seinem System gefördert. Ähnlich läuft es auch bei Island – besser gesagt: Island läuft. Coach Lars Lagerbäck vertraut einem 4-4-2-System, in dem er fast ausschließlich Spieler stehen hat, die in der Lage sind, 90 oder mehr Minuten lang läuferisch und kämpferisch alles zu geben.

Die Automatismen greifen

"Es ist extrem wichtig, dass sich jeder an den Plan hält. Je besser das Team organisiert ist, desto größer sind die Siegchancen", sagte Lagerbäck dem Scandinavian Traveller. "Je öfter die Spieler miteinander arbeiten, desto mehr Dinge funktionieren automatisch. Viele Leute unterschätzen, wie wertvoll so etwas sein kann", fügte der Island-Trainer hinzu.

Die Aufgabenverteilung bei den Isländern ist klar: Wenn verteidigt wird, machen alle mit und gehen beherzt in die Zweikämpfe. Wenn der Ball in den eigenen Reihen ist, probieren es die Nordeuropäer mit Kombinationen, aber wenn kein Raum oder keine Zeit für ein Passspiel ist, tut es auch ein langer Schlag nach vorne. Das klingt nicht nur einfach, sondern sieht auch einfach aus – aber am Ende stehen bislang für Island zwei Siege und zwei Unentschieden beim Turnier in Frankreich.

Kann dem Team auch der ganz große Wurf mit dem EM-Titel gelingen? Die bessere Frage wäre eigentlich: Warum sollte es für Island nicht klappen? Wer Portugal nerven kann und England schlägt, ist auch im Viertelfinale gegen Frankreich nicht chancenlos. Das wird Trainer Lars Lagerbäck seiner Truppe mit auf den Weg geben. Und ganz Fußball-Europa wird zuschauen, wie es am Ende für den großen Außenseiter ausgeht.

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