Ex-Milan-Talent Dominic Adiyiah: Vergessen von der Welt

Manchmal entscheiden die Bruchteile einer Sekunde im Leben über die Richtung, in die das Pendel ausschwingt. Im Leben von Dominic Adiyiah war es der 2. Juli 2010, der über die wenigen Millimeter zwischen einem Leben als Held eines ganzen Kontinents und tragischer Figur, die alsbald der Vergessenheit anheimfällt, entschied.

Es war ein Freitag, an dem so vieles möglich schien. Den ganzen Tag waren die Vuvuzelas in Johannesburg zu hören. Die Luft flirrte in Angesicht der Erwartung der Tausenden in den Straßen. Es war der Tag des WM-Viertelfinals zwischen Ghana und Uruguay. Die Black Stars waren das letzte verbliebene afrikanische Team im Wettbewerb – ein Umstand, der sie alle zusammenschweißte, die Afrikaner, die so stolz waren, zum ersten Mal ein so großes Turnier auf ihrem Boden stattfinden zu sehen.

Das Spiel vor über 84.000 Zuschauern, die für eine packende Atmosphäre sorgten, war ein intensiver Schlagabtausch zweier Mannschaften mit offenem Visier. In der 88. Minute wurde Adiyiah, der bisher im ganzen Turnier genau eine Minute gespielt hatte, von Milovan Rajevac an die Seitenlinie gerufen und es richteten sich viele Millionen Augenpaare vor den TV-Geräten auf der ganzen Welt auf das beinahe rundlich wirkende Gesicht des 20-Jährigen mit den ängstlichen Augen.

Es stand 1:1, Verlängerung. Alle Welt erwartete ein Elfmeterschießen, als er plötzlich da war: der Moment, der Adiyiahs Leben für immer verändern hätte können. In der allerletzten Szene des Spiels schlug John Paintsil einen Freistoß in den Strafraum Uruguays. Es herrschte Chaos, Torwart Muslera verlor die Orientierung, der Ball wurde auf der Linie gerettet und tauchte vor Adiyiah auf, nur fünf Meter vom Tor entfernt.

Suarez' Handspiel und Adiyiahs Fehlschuss

Der Stürmer steckte alle Wucht, die er hatte, in den Kopfball, den er an Muslera vorbei in Richtung Tor manövrierte. Es wäre der Moment gewesen, der ihn für immer unvergessen gemacht hätte, der ihn in eine Reihe mit Kameruns WM-Held Roger Milla gestellt hätte. Und der Moment war so nah. Der Torwart war geschlagen, die Zuschauer vergaßen für eine Sekunde, in ihre Vuvuzelas zu tröten, und verfolgten die Flugbahn des Balls. In Filmen wäre die Szene in Super Slowmotion gezeigt worden.

Der Moment in der 121. Minute in Johannesburg, um 23.07 Uhr Ortszeit, war jedoch kein Film, sondern Realität. So blieb das Happy End, die Ekstase, der Stolz einer Nation aus, weil auf der Linie zwar nicht mehr Torwart Muslera stand, dafür aber Feldspieler Luis Suarez, ehemaliger Weltklasse-Stürmer des FC Barcelona. Der Rest ist Geschichte. Suarez wehrte den Ball Zentimeter vor dem Überqueren der Linie mit beiden Händen ab. Rot und Elfmeter. Asamoah Gyan verschoss, Ghana schied im Elfmeterschießen aus.

Noch tragischer als sowieso schon an Adiyiahs Geschichte: Er verschoss den entscheidenden Elfmeter. Nur Sekunden später verwandelte Sebastian Abreu frech und ganz Ghana weinte. Die Bilder Gyans, der zur tragischsten Figur der WM geworden war, weil er den aus Suarez' Handspiel resultierenden Strafstoß verschoss, gingen um die Welt. Was mitschwang, vor allem in Afrika, wo man trotzdem oder besser erst recht stolz war, war tiefe Sympathie für den Pechvogel, der so große Verantwortung übernommen hatte. Adiyiah dagegen verzieh man nie so ganz, dass er verschossen hatte. Denn er war nicht der Kapitän des Teams, der überhaupt erst für den Einzug ins Viertelfinale gesorgt hatte, sondern ein Reservist.

Durch die U20-WM zum Shootingstar

Die traurige Geschichte Adiyiahs begann jedoch neun Monate vorher über 6000 Kilometer weiter nördlich, bei der U20-WM in Ägypten. Der 19-Jährige wurde in Ghanas Hauptstadt Accra geboren, in der Feyenoord Academy einem Kooperationspartner des niederländischen Erstligisten in Rotterdam ausgebildet und war 2008 nach seinen tollen Leistungen für die Hearts of Lions in Ghanas Beletage – unter anderem wurde er zum Newcomer des Jahres gewählt - zu Frederikstad FK im Süden Norwegens gewechselt.

2009 also die WM der Unter-20-Jährigen in Nordafrika. Ghana gewann jedes Spiel. Im Finale setzte man sich gegen den Favoriten aus Brasilien, bei dem Spieler wie Ganso, Douglas Costa oder Alex Teixeira auf dem Platz standen, die Krone auf. 

Superstar der jungen Black Stars, mit acht Toren Gewinner des Goldenen Schuhs und mit großem Abstand auch Gewinner des Goldenen Balls, den der beste Spieler des Turniers erhält, war Dominic Adiyiah, dieser schnelle, wendige Stürmer, der trotz seiner nur 1,73 Meter Körpergröße erstaunlich wehrfähig und robust auftrat. Es sind Turniere wie diese, die Talente in die Notizbücher der großen Klubs bringen. Costa etwa wechselte im kommenden Sommer für acht Millionen nach Donezk.

Und Adiyiah? Nun, der war plötzlich der begehrteste Spieler seines Jahrgangs auf der ganzen Welt. Sie alle klopften an, umgarnten ihn, boten ihm Gehälter, die er sich als Kind nicht einmal hatte vorstellen können. Sie alle wollten ihn besitzen, samt seines Repertoires, in dem es an fast nichts zu fehlen schien. Der lachende Torjäger, der in Kairo seine Tore stets samt Teamkollegen und Tanz gefeiert hatte, schien bereit zu sein für die große Bühne.

Wechsel zum Traumklub

Aus den unzähligen Offerten pickte er sich weniger als zwei Monate später, im Januar 2010, die der AC Mailand heraus. Dass die Rossoneri schon damals auf dem absteigenden Ast waren, Inter Mailand mit Jose Mourinho vorbei gezogen war, Kontinuität nicht vorhanden war und mit Aktionismus eingekauft wurde, störte ihn nicht. Denn für ihn war Milan der größte Verein der Welt.

Der Verein, wo George Weah in den Neunzigern gespielt hatte. Als Kind hatten sie ihn vergöttert, den liberianischen Stürmer, der 1995 als erster und bisher einziger Afrikaner Weltfußballer geworden war. In seine Fußstapfen treten zu dürfen, war das Größte, was Adiyiah sich vorstellen konnte.

Doch die Mailänder Glitzerwelt war zu viel für ihn. Er hatte in Europa bisher nur die Ruhe und Beschaulichkeit Frederikstads kennengelernt. Mailand dagegen: laut, schrill, hysterisch. Die Profis wurden vergöttert. Plötzlich war er ganz alleine in einem neuen Land mit einer neuen Sprache und hatte auf dem Konto mehr Geld, als er jemals vorher besessen hatte. Es ging zu schnell. Auch auf dem Platz. Plötzlich waren seine Gegenspieler nicht mehr gleichaltrige Ungarn oder norwegische No Names, sondern Alessandro Nesta, Ronaldinho, David Beckham und Clarence Seedorf.

Er musste sich mit dem gleichalten Alexandre Pato messen lassen, der deutlich weiter war und mit Dida und Ronaldinho einflussreiche Freunde im Teamgefüge hatte. Er stand in seinem ersten halben Jahr nicht einmal im Kader. Wie auch, wenn sich Inzaghi, Huntelaar, Boriello und Pato um drei Plätze balgten?

Nirgendwo komplett akzeptiert

Stattdessen musste er diverse Male bei der Primavera mittrainieren oder spielen. Er schoss zwar ein Tor im Derby gegen Inter, akzeptiert wurde er aber nicht. Denn sie kannten ihn nicht, sich gegenseitig dagegen teilweise seit mehreren Jahren. Er hatte bereits einen Profivertrag, hatte 1,4 Millionen Euro gekostet. Dann soll er mal zeigen, dass er so viel besser ist, schienen sie zu denken. Das Problem: Adiyiah hatte nie behauptet, besser zu sein. Er hatte nie die gleiche taktische Ausbildung genossen. Deshalb hatte er zwar seinen Antritt, seinen Abschluss und seinen Instinkt, verstand im Training mit teilweise vier Jahre Jüngeren aber selbst einfachste Übungen nicht auf Anhieb. 

Und so stand er zwischen dem vor Stars strotzenden Profikader, der ihn sowieso nicht wirklich annahm, da die erfahrenen Profis es gewohnt waren, jedes Jahr viele Spieler kommen und gehen zu sehen, und dem des Nachwuchses. Er war einsam, sehnte sich nach seinen Freunden in Ghana, mit denen er Tore tanzend gefeiert und auf Fahrten zu Spielen immer laut gesungen hatte. Hier sang keiner, stattdessen saßen sie mit starren Mienen auf ihren Plätzen und hatten dicke Kopfhörer auf.

Anstatt gegen seinen Fehlstart anzukämpfen, ließ er sich allerdings gehen. Er ging feiern, erlag den Verlockungen des Nachtlebens. Er blieb lange wach und war wie ein kleines Boot im Ozean, dem der Kompass abhandengekommen ist. Denn er hatte niemanden, der nach ihm sah. Er war gerade noch Kind gewesen und nun neu in einer unbekannten Welt. Man hatte ihm eine Wohnung besorgt, mehr aber nicht.

Es kam die tragische WM, in der er nur 33 Minuten gespielt hatte, die aber dennoch immer mit seinem Fehlschuss in Verbindung stehen würde und mit dem Moment, in dem Suarez' Handspiel Ghanas Traum zerplatzen ließ. Adiyiah war untröstlich, hätte liebend gerne seinen U20-WM-Sieg gegen das Erreichen des Halbfinals eingetauscht. Man muss sich vorstellen, wie der am Boden zerstörte 20-Jährige nun in die Fremde zurückkehren musste, wo er keinen Trost fand, sondern nur die kalten Schultern seiner Mitspieler.

Beginn einer tragischen Odyssee durch Europa

Seine Leistung litt unter seiner Einsamkeit, seiner Verzweiflung, die ihn an manchen Tagen zu erdrücken schien. Er hätte einen väterlichen Trainer gebraucht, einen guten Freund, ein stabiles Umfeld, seine Familie. Stattdessen wurde er verliehen. Und alles wurde noch schlimmer. Wieder ein neues Team, wieder war er der Neue, der zeigen sollte, warum er bester Spieler einer U20-WM geworden war und Milan über eine Millionen Euro für ihn ausgegeben hatte. Wieder akzeptierte man ihn nicht.

Er spielte 13-mal für Reggina Calcio, davon nur dreimal von Beginn an. 2011 wurde er an Partizan Belgrad verliehen, gerade als er sich an das Leben in Italien gewöhnt hatte. Nach nur acht Spielen ohne Tor wurde er suspendiert, weil er sich nach einer Auswechslung lautstark beschwert hatte. Es war eine Szene, die seine innere Zerrissenheit gut darstellt. Er wollte unbedingt einen Eindruck hinterlassen, unbedingt auffallen, um es beim Traumklub seiner Kindheit Milan zu schaffen. Da war der Frust groß, wenn er hunderte Kilometer entfernt in einem fremden Land, in das er nie gewollt hatte, ausgewechselt wurde oder auf der Bank saß.

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Es folgten weitere Leihen zu Karsiyaka in der Türkei und Arsenal Kiew in der Ukraine. Dass es immer Vereine waren, die einen Anfang von Null voraussetzten, lag auch an seinem Berater, der stets die Angebote durchsetzte, die ihm selbst das meiste Geld einbrachten. So waren in der Zeit, die er bei Milan unter Vertrag stand, auch Leih-Offerten aus den Niederlanden und von Hannover 96 dabei. Es ist nicht garantiert, dass es dort besser gelaufen wäre, behutsame Förderung ist dort aber weitaus ausgeprägter als in der Ukraine oder der Türkei.

Adiyiah blieb glücklos, schoss keine Tore, wurde in der Ukraine bei einem Auswärtsspiel rassistisch beschimpft. Bei Milan war der Zug längst abgefahren, auch wenn er es selbst lange nicht wahrhaben wollte. Und so wechselte er 2012, mit 22, ablösefrei zu Arsenal Kiew. Ein Wechsel, der ihm schier das Herz brach. Er hatte nie für die Profis des AC Mailand eine Pflichtspielsekunde absolviert.

Aus Geldnot nach Thailand

Er war zwar Stammspieler auf der rechten Außenbahn, glücklich aber nicht. Er biss sich dennoch durch, trotz Kälte, Einsamkeit und dem Traum vom rot-schwarzen Trikot Milans. Er betete jeden Tag, klammerte sich an seine Liebe zu Gott und Jesus Christus. Ohne sie wäre er wohl an der bitteren Enttäuschung zerbrochen.

Nach eineinhalb Jahren in der Hauptstadt der Ukraine erhielt er keinen neuen Vertrag. Grund war der größte Umbruch der Vereinsgeschichte. Nimmt man Leihen dazu, mussten über 30 Spieler den aufgeblähten Kader verlassen, es kamen fast 20 Neue. Leistungsgesellschaft auf Ukrainisch. Adiyiahs Berater legten ihm erneut abenteuerliche Angebote vor. Er wollte aber nicht schon wieder in der Fremde neu anfangen. Lieber war er vereinslos.

Doch er brauchte Geld, zu sehr hatte er sich daran gewöhnt, nicht auf das Finanzielle schauen zu müssen, sich Luxusgüter leisten zu können. Also nahm er nach einem halben Jahr, die WM in Südafrika war inzwischen vier Jahre her, ein Angebot des kasachischen Erstligisten FK Atyrau an, der gut zahlte und ihm eine Einsatzgarantie bot. Nach einem weiteren halben Jahr wechselte er im Januar 2015 zu Nakhon FC, erste Liga Thailands. Der Tiefpunkt seiner einsamen Odyssee durch die Welt.

Vergessen von der Welt

Drei Tage später war er erneut ohne Verein. Obwohl man ihm seine Gehaltsvorstellungen schon zugesichert hatte, machte der Klub einen Rückzieher. Adiyiah lenkte schließlich ein und unterschrieb am 5. März 2015 einen neuen Vertrag. In den folgenden sechs Jahren pendelt er zwischen Vereinslosigkeit und einigen Klubs in Thailand - heute ist er mit 33 abermals ohne Klub. Vergessen von der Welt. Verlassen vom Glauben daran, dass Träume wahr werden können.

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