Die tragische Geschichte des Jakub Blaszczykowski: Und plötzlich ist Stille

"Er hat viele Male gesagt, dass er sie umbringen würde", erzählt Jakub Blaszczykowski der angesehenen polnischen Journalistin Malgorzata Domagalik. Die 66-Jährige hat sich mit "Kuba", wie Blaszczykowski genannt wird, getroffen, um an seiner Biografie zu arbeiten. Der Offensivmann, damals noch in Diensten Borussia Dortmunds, spricht erstmals ausführlich über das Unvorstellbare, das Grausamste, das ihm in seinem noch jungen Leben widerfahren ist. Im Alter von zehn Jahren muss er mit ansehen, wie sein Vater Zygmunt die Mutter ersticht.

"Ich spiele mit Bauklötzen, das Fenster ist angelehnt und plötzlich höre ich ein Gespräch", erinnert sich Kuba an den verhängnisvollen Tag im August 1996. "Ich weiß sofort, wer spricht, ich erstarre und höre, wie sie sich streiten: 'Hier hast Du, Du F*****!' Und ein Schrei." Als der Junge ohne Schuhe hinausläuft, um seiner Mutter Anna zu helfen, ist es zu spät. "Für mich ist es, als sei Mutter in meinen Armen gestorben. Sie machte noch drei Atemzüge und dann war es aus. Plötzliche Stille."

15 Jahre Haft für Zygmunt Blaszczykowski

Sein Vater wird wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt, Kuba sagt bei der Gerichtsverhandlung als Zeuge aus, muss die schrecklichen Bilder seiner sterbenden Mama in Gedanken immer wieder Revue passieren lassen. In jenen Tagen schwört der fußballbegeisterte Blondschopf seiner großen Leidenschaft ab, die Kraft, dem großen Traum vom Profi nachzujagen, sie hat ihn verlassen.

"Täglich fuhr ich von unserem Dorf Truskolasy zum Fußballtraining in die Stadt Czestochowa. Sechsmal die Woche zwei Stunden hin und zwei zurück. Abends kam ich erst um zehn oder elf ins Bett", sagt er im 11Freunde-Interview und schiebt nach: "Nach dem Tod meiner Mutter fuhr ich zwei, drei Monate überhaupt nicht mehr zum Training."

Paul Scholes Jerzy Brzeczek England PolandGetty

Dass er schließlich doch noch eine Laufbahn als Fußballer einschlägt, hat Blaszczykowski vor allem seinem Onkel Jerzy Brzeczek, einst selbst polnischer Nationalspieler, zu verdanken, der ihn in dieser schweren Zeit immer wieder animiert, weiter - im wahrsten Sinne des Wortes – am Ball zu bleiben. "Er überredete mich, bei einem Sichtungsturnier mitzumachen. Einige der besten Jugendspieler des Landes nahmen teil, also sagte ich zu – und wurde zum besten Spieler gewählt", schildert Kuba. "Als ich heimkehrte, sagte mein Onkel nur: 'Hast du gesehen, was du kannst? Und wie gut du sein könntest, wenn du regelmäßig trainierst?' Dieser Tag und dieser Satz gaben mir sehr viel Kraft."

Neben Onkel Jerzy, der Polen bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona als Kapitän anführte und schließlich die Silbermedaille mit nach Hause brachte, ist Oma Felicja, bei der Jakub und sein Bruder Dawid nach dem Tod der Mutter wohnen, die treibende Kraft, die ihren Enkel immer wieder ermutigt. "Sie hält die Familie zusammen. Wie die Wurzeln einen Baum. Von ihr habe ich Demut gelernt. Außerdem ist sie fußballverrückt und meine größte Kritikerin", erklärt der 108-fache Nationalspieler im Gespräch mit 11Freunde.

Gornik-Profis klauten jungen Spielern Geld

Als 16-Jähriger steht Kuba beim polnischen Spitzenklub Gornik Zabrze unter Vertrag, entschließt sich aber nach kurzer Zeit, den renommierten Verein zu verlassen, um beim viertklassigen KS Stradom Czestochowa anzuheuern. Mehrere Schritte zurück quasi, eine ungewöhnliche Entscheidung für einen jungen Fußballer. Es sei "keine leichte Zeit" gewesen, sagt Blaszczykowski und verrät, dass ältere Gornik-Spieler den jüngeren Geld klauten und auch vor Schlägen nicht zurückschreckten.

Zwei Jahre später zieht es den talentierten Youngster erneut zu einem Erstligisten. Wisla Krakau erkennt das Potenzial Blaszczykowskis. Dort tritt er eigenen Angaben zufolge zunächst sehr verschüchtert auf. "Das Team bestand aus fünf, sechs Nationalspielern und war amtierender Meister. Anfangs wusste ich nicht mal, wie ich meine Mitspieler ansprechen soll. Herr Sobolewski? Herr Frankowski? Aber schon nach ein, zwei Tagen war die Aufregung weg. Mauro Cantoro (Mitspieler bei Wisla, Anm. d. Red.) sagte nach einem Training zum Trainer: 'Wo haben wir denn den Jungen her? Das kann nicht sein, dass der in der vierten Liga gespielt hat'."  

Gleich in seiner ersten Saison beim Traditionsklub aus Südpolen gewinnt Kuba die Meisterschaft, erzielt sein erstes Tor in der Ekstraklasa. In den folgenden zwei Spielzeiten setzt sich der Flügelflitzer endgültig durch, glänzt vor allem als Vorbereiter und verdient sich den Spitznamen "kleiner Figo". 2007 wird der BVB auf Blaszczykowski aufmerksam und überweist rund drei Millionen Euro ins Nachbarland.

Klopp Blaszczykowski Borussia DortmundGetty

"Dortmund wirkte auf mich vielleicht wie ein kleinerer Verein, denn das Team spielte nicht international. Allerdings hat mein Onkel schon bei den Verhandlungen gesagt: 'Kuba, Dortmund ist ein Topklub. Phantastisches Stadion, tolle Fans, große Geschichte.' Genau das hätte ich nach ein paar Wochen in Dortmund auch gesagt", sagt Blaszczykowski, der in der Folge zum schwarz-gelben Publikumsliebling avanciert. Auch, weil er ein besonders gutes Verhältnis zu seinem damaligen Trainer Jürgen Klopp hat. "Mit Jürgen kam ich super aus. Wie alle in der Mannschaft. Es war beim BVB damals wie eine Familie – und Jürgen war der Vater. Ich habe mich beim BVB nicht nur sportlich verbessert, die Zeit hat mich auch menschlich weitergebracht."

Ausbootung unter Thomas Tuchel 

Acht Jahre hält es Kuba in der fußballbegeisterten Ruhrmetropole, ehe er unter Neu-Coach Thomas Tuchel ins zweite Glied rückt. Kurz nach Veröffentlichung seiner Biografie, die den schlichten Titel "Kuba" trägt, geht er für ein Jahr auf Leihbasis zum AC Florenz.

Weil Tuchel auch nach Blaszczykowskis Rückkehr keine Verwendung für ihn hat, wechselt er innerhalb der Bundesliga zum VfL Wolfsburg. Die Niedersachsen zahlen fünf Millionen Euro. Zu diesem Zeitpunkt hat er seiner Vita zwei Meistertitel in Deutschlands Beletage sowie einen Triumph im DFB-Pokal hinzugefügt.

Begleitet wird er auf seinem Weg aber stets von diesem einen fürchterlichen Erlebnis aus dem August 1996. "Das ist immer präsent. Das kann man nicht vergessen. Ich jedenfalls nicht. Ich will es auch gar nicht vergessen, denn das, was ich durchgemacht habe, gehört mir und niemand kann es mir nehmen", wird Kuba in seiner Biografie zitiert. Er führt zudem aus, dass er mehrfach darüber nachdachte, wie die schreckliche Tat seines Vaters hätte verhindert werden können.

"Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich das, was bei uns zu Hause passiert ist, zugelassen hätte, wenn ich älter gewesen wäre. Ich habe mir die Schuld dafür gegeben, dass ich nicht in der Lage war, etwas zu tun", so Blaszczykowski. "Kurz vor ihrem Tod legte ich Puzzle im Wohnzimmer und sie löste Kreuzworträtsel. In einer Art Vorahnung ging ich zu ihr und sagte: 'Mama, ich weiß nicht, was ich mache, wenn ich dich verliere'. Ich fing an zu weinen."

"Ich lag drei Tage und drei Nächte im Bett und war wie paralysiert"

Mit seinem Vater sprach Kuba nie wieder. 2012 wurde Zygmunt aus der Haft entlassen, kurz darauf verstarb er. Abgeschlossen habe er mit dem Kapitel nach dessen Tod aber nicht: "Das geht nicht, das möchte ich auch nicht. Aber ich will auch nicht ständig nach dem Warum fragen. Nach dieser Sache lag ich drei Tage und drei Nächte im Bett und war wie paralysiert. Irgendwann merkte ich: Es muss weitergehen."

Ein Credo, das Jakub bemerkenswert verinnerlicht. "Was auch immer in deinem Leben passiert, welche Hindernisse du auch immer in den Weg gelegt bekommst, das Wichtigste ist, niemals aufzugeben, sondern einfach vorwärts zu gehen", sagt er.

Wenn er ein Tor schießt, blickt er mit erhobenen Händen gen Himmel, dorthin, wo seine Mutter über ihn wacht und nicht stolzer sein könnte auf das, was ihr Sohn erreicht hat. In diesen Momenten, wenn er seine geliebte Mama vor Augen hat, trotz abertausender Zuschauer um sich herum wenige Sekunden für sich ist, dann ist plötzlich Stille. Friedliche Stille.

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