GFX BIERHOFFGOAL

DFB-Manager Oliver Bierhoff im Interview: "Wir wussten: Wenn das schiefgeht, wird die Reißleine gezogen"

Seit 2004 ist der frühere Stürmer Oliver Bierhoff Manager der deutschen Nationalmannschaft, seit März 2022 fungiert er auch als Geschäftsführer Nationalmannschaften und Akademien. Im Interview mit GOAL und SPOX spricht Bierhoff über seine Anfänge als Funktionär, Meinungsverschiedenheiten mit dem langjährigen Bundestrainer Joachim Löw und die Kritik über die Überkommerzialisierung und “Bierhoffisierung” der Nationalmannschaft.

Außerdem verrrät er, was er während des legendären 7:1 gegen Brasilien im WM-Halbfinale 2014 gedacht hat. 

GOAL: Vor 20 Jahren, am 30. Juni 2002, haben Sie im WM-Finale Ihr letztes Länderspiel bestritten. War das aus Ihrer Sicht ein würdiger Abschluss oder war es eher unbefriedigend, weil Ihnen Rudi Völler Monate vorher die Kapitänsbinde abgenommen hatte und Sie im Turnier kein Stammspieler mehr waren?

Oliver Bierhoff: Das Verhältnis zu Rudi Völler ist immer gut gewesen, denn ich kann zwischen einem persönlichen Verhältnis und einer Trainerentscheidung schon unterscheiden. Insgesamt war die WM 2002 schön und ich habe versucht sie als meinen Einsatz bei der Nationalmannschaft zu genießen und noch mal alles zu geben. Es wäre natürlich etwas anderes gewesen, wenn wir das Endspiel gegen Brasilien gewonnen hätten. Ich konnte im Verlauf des Turniers zumindest noch mal ein Tor erzielen und bin im Finale eingewechselt worden, aber diese WM war sicher nicht der emotionale Höhepunkt meiner Karriere. 

War schon vorher klar, dass Sie danach in der Nationalmannschaft aufhören?

Bierhoff: Ja, ich bin zur WM gefahren und wusste nicht, ob ich meine Laufbahn als Profi auch im Verein überhaupt noch fortsetze. Körperlich ging es zwar noch, aber ich hatte in dem Jahr gespürt, dass ich innerlich den Drang hatte, einen neuen Weg zu gehen. Der Kopf war dann doch schon manchmal an anderer Stelle. Ich hatte immer hohe Ansprüche an mich selbst und war trotz einiger Probleme in meiner Karriere spätestens seit meiner Zeit im Ausland in Salzburg und Italien in meinen Mannschaften fast immer Stammspieler. Deshalb wollte ich weiter im Klub wie in der Nationalmannschaft ein wichtiger Spieler sein, habe aber gemerkt, dass ich diesem Anspruch langsam nicht mehr gerecht werden kann. Aber ich habe ja dann noch ein Jahr bei Chievo Verona drangehängt.

Nach dem WM-Finale 2002 hat Jürgen Klinsmann als TV-Experte gesagt, alles sei bereitet für eine erfolgreiche Heim-WM vier Jahre später unter Rudi Völler. Sind Sie ähnlich wie Klinsmann damals auch davon ausgegangen, 2006 in Ihrer damals neuen Rolle als TV-Experte zu erleben?

Bierhoff: Ein Job beim DFB war damals jedenfalls kein Thema für mich. Ich hatte mich auf meine Zeit nach der Karriere gut vorbereitet und mit Anschlussverträgen als Markenbotschafter für Nike und Coca-Cola bis zur WM 2006 vorgesorgt. Zudem war ich gleichzeitig noch als TV-Experte tätig, also insgesamt ausreichend beschäftigt. Allerdings habe ich 2003 bei einem Besuch in den USA ganz zufällig Jürgen Klinsmann getroffen und habe damals gemerkt, dass er nach wie vor diese Fußball-Leidenschaft hat und wieder zurück auf den Platz will. Und als Rudi Völler dann 2004 nach dem frühen EM-Aus als Bundestrainer zurückgetreten ist, kam mir schon der Gedanke, dass der DFB eine ernsthafte Option werden könnte. Um den deutschen Fußball wieder voranzubringen.

Oliver Bierhoff 04061999Getty Images

Der Verband hat damals über Wochen vergeblich einen neuen Bundestrainer gesucht. Unter anderem sagten die favorisierten Ottmar Hitzfeld und Otto Rehhagel ab, ehe die Wahl auf Klinsmann fiel. Wie kamen Sie dann für den Posten des Nationalmannschafts-Managers ins Spiel?

Bierhoff: Ich war in Portugal bei der EM vor Ort und mit Günter Netzer und Wolfgang Niersbach essen, als wir die Nachricht von Völlers Rücktritt bekamen. Im ersten Moment habe ich nicht daran gedacht, dass ich in den Planungen eine Rolle spielen könnte. Ich hatte Klinsmann zwar geschrieben, „Jürgen, lass uns das zusammen machen“, aber das war eher im Scherz. Ich glaube, Karl-Heinz Rummenigge hat mich dann erstmals für den Posten ins Gespräch gebracht, weil er glaubte, ein neuer Bundestrainer bräuchte Unterstützung an seiner Seite. Und dann war relativ schnell klar, dass Jürgen mich an seiner Seite haben wollte. Aber es gab weder beim DFB noch bei mir eine klare Vorstellung, wie der Job beim DFB überhaupt aussehen sollte. Ich musste sie erst selbst definieren, weil es diese Rolle bis dahin nicht gab. 

Wie schnell haben Sie den Druck gespürt, wie viel auf dem Spiel steht, wenn man eine Heim-WM in den Sand setzt?

Bierhoff: Das ging ganz schnell. Es war schon eine extreme Situation und mit Blick auf das damals große Risiko zu scheitern, fast schon ein Himmelfahrtskommando. Wir standen nach dem Scheitern bei der EM und einem notwendigen Umbruch bei Punkt Null. Daran denkst du aber am Anfang nicht, weil man mit einem positiven Geist und viel Motivation an so eine Aufgabe geht. Dennoch haben wir sehr schnell gemerkt, welche Bedeutung dieses Turnier hat und welche Dynamik es entwickeln kann, positiv wie negativ. Vor allem Jürgen stand teilweise stark in der Kritik. Zu diesem Zeitpunkt musste ich intern wie in der Öffentlichkeit unsere Marschroute verteidigen und versuchen, die Wogen zu glätten, wenn Jürgen nicht in Deutschland, sondern in den USA war. Die Zeit damals war sehr intensiv und verging im Eiltempo. 

Nach der 1:4-Niederlage Anfang März 2006 in Italien gab es Stimmen im DFB, die Jürgen Klinsmann und sein Team noch vor der WM ablösen wollten. Wie haben Sie das erlebt?

Bierhoff: Die Situation habe ich beim DFB noch weitere Male erlebt und mir war immer klar, dass ich im Falle eines Misserfolgs wahrscheinlich auch in diesen Sog gezogen werde. 2006 haben wir diese Stimmen natürlich vernommen und uns war allen bewusst, dass das der Niederlage gegen Italien folgende Spiel ein paar Wochen später gegen die USA entscheidend sein würde. Wir wussten: Wenn das schiefgeht, wird die Reißleine gezogen. Zumal das „Schattenkabinett“ schon bereitstand (als Nachfolgekandidat galt der damalige DFB-Sportdirektor Matthias Sammer, Anmerkung der Redaktion). Aber es hat uns immer wieder stark gemacht, dass wir in solchen Phasen als Einheit aufgetreten sind, keine Angst hatten und das Ganze offensiv angegangen sind. Denn sobald du in die die Verteidigungsrolle kommst und nur noch versuchst, dich zu retten, ist das der Anfang vom Ende. Diese Erfahrungen haben uns zusammengeschweißt und uns als Team wachsen lassen.

Deutschland gewann dann ja gegen die USA und die WM wurde mit Klinsmann ein herausragender Erfolg. Welche prägenden Erinnerungen haben Sie noch an das Turnier?

Bierhoff: 2006 ist für mich ganz klar verbunden mit Jürgen Klinsmann als prägende Figur dieses Sommermärchens. Ich habe ihm unheimlich viel zu verdanken, weil er mich in diese Rolle gebracht hat und ich in dem gemeinsamen Schaffen viel von ihm lernen konnte. Ansonsten gibt es natürlich so viele Erinnerungen und Eindrücke, die ich gar nicht alle aufzählen kann: Das späte Siegtor gegen Polen durch Oliver Neuville nach Vorlage des eingewechselten David Odonkor. Das Elfmeterschießen gegen Argentinien mit dem Matchwinner Jens Lehmann, nachdem wir zuvor zwei Jahre lang Diskussionen hatten, ob er oder Oliver Kahn die Nummer eins im Tor sein sollte. Das sind nur zwei Beispiele dafür, dass bei diesem Turnier nahezu alle sportlichen Entscheidungen aufgegangen sind.

Am Ende stand der DFB aber wieder ohne Bundestrainer da…

Bierhoff: Jürgen hat uns erst vor dem Spiel um Platz drei gegen Portugal mitgeteilt, dass er im Anschluss an die WM aufhört. Gespürt hatte ich aber eigentlich vorher schon, dass es so kommen wird. Für mich war schon vor dem Turnier während der Diskussionen über einen möglichen Klinsmann-Nachfolger Jogi Löw einer der Topkandidaten, auch wenn das im DFB zunächst nicht alle so gesehen haben. In der Begeisterung nach der erfolgreichen WM war Jogis Eignung aber überhaupt keine Frage mehr. Seine Beförderung vom Co- zum Cheftrainer war dann ein absoluter Glücksgriff für den deutschen Fußball.

Löws erstes großes Turnier war die EM 2008, wo unter anderem die Szenen nach dem verlorenen Finale gegen Spanien in Erinnerung geblieben sind, als Sie Michael Ballack noch auf dem Spielfeld wüst beschimpften und fast handgreiflich wurden.  Dies sei Ausdruck der Kritik an Ihnen gewesen, da Sie „unter den Spielern als effekthaschender Eventmanager betitelt wurden“, war damals im kicker zu lesen. Wie bewerten Sie die damaligen Spannungen im Rückblick?

Bierhoff: Nach so einem Spiel kochen verständlicherweise die Emotionen hoch. Da wird manchmal einfach ein Ventil gesucht. Ich wollte damals, dass die Mannschaft sich mit einem Transparent bei den Fans bedankt, Michael war im Moment der grenzenlosen Enttäuschung anderer Meinung. Dennoch ist da nie was hängen geblieben, wir sind Fußballer, da darf schon mal ein klares Wort fallen. Michael und ich haben ja auch erfolgreich zusammengespielt.

Oliver Bierhoff Germany 2021Getty Images

Ballack blieb danach Kapitän und unumstrittener Anführer der DFB-Auswahl, erlitt im FA-Cup-Finale 2010 unmittelbar vor der WM aber nach einem Tritt von Kevin-Prince Boateng eine so schwere Verletzung, dass er für das Turnier absagen musste. Im Nachhinein war das nach Meinung vieler Beobachter eher positiv, weil sich dadurch eine neue Generation um Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Mesut Özil und Thomas Müller in den Vordergrund spielen konnte. Wie sehen Sie das?

Bierhoff: Michael war damals eine Ausnahmeerscheinung und der herausragende Spieler der Mannschaft, insofern war seine Verletzung ein Schock für uns und für ganz Fußball-Deutschland. Aber auf der anderen Seite gab sein Ausfall natürlich anderen Spielern Raum und Platz. Sie mussten plötzlich Verantwortung übernehmen, was mit Michael in der Mannschaft zu diesem Zeitpunkt so nicht der Fall gewesen wäre. Gleichzeitig wurde die Erwartungshaltung an uns durch diesen Ausfall deutlich gesenkt und auch das hat dem relativ jungen Team gutgetan. Diese Konstellation hat zu dieser unglaublichen Mannschaftsleistung in Südafrika geführt.

War das der Beginn einer Entwicklung, die bei der WM 2014 ihren Höhepunkt fand?

Bierhoff: Auf jeden Fall. Für mich hat man 2010 das erste Mal den Erfolg des im Jahr 2000 gestarteten Talentförderprogramms gesehen. Die jungen Spieler, von denen mehrere im Jahr zuvor U 21-Europameister geworden waren, waren die ersten Profis, die von diesen Änderungen in der Nachwuchsausbildung profitiert hatten. Es stand mit einem Mal ein anderes Deutschland auf dem Platz, sowohl von der Spielweise her als auch vom hohen Anteil an Spielern mit Migrationshintergrund. Für mich war das der Start einer traumhaften Phase, die trotz zwei, drei Rückschlägen bis 2016 angehalten hat. Wir haben damals über mehrere Jahre nicht nur erfolgreichen, sondern auch sehr attraktiven Fußball gespielt.

Trotzdem reichte es trotz guter Leistungen und einem extrem breit besetzten Kader bei der EM 2012 wieder nicht zum Titel, wofür vor allem Jogi Löw nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien massiv in der Kritik stand. Er hat sich nach dem Turnier erstmal Monate lang aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Wie nah war er dran, als Bundestrainer hinzuschmeißen?

Bierhoff: Tatsächlich haben die EM-Turniere 2012 und 2016 für mich einen bitteren Beigeschmack, weil wir beide Male den Titel hätten holen können, wenn nicht sogar müssen. Die Qualität hatten wir. Der K.o. 2012 gegen Italien war für uns alle, aber auch für Jogi schon ein herber Schlag, weil in den Jahren zuvor bis zu diesem Spiel alles rund gelaufen war, alle Maßnahmen und Entscheidungen gepasst hatten. Ich habe mich eigentlich nach jedem Turnier gefragt: Macht der Bundestrainer weiter? Auch 2014, 2016 und 2018. Für diese Entscheidung musste man Jogi immer etwas Zeit lassen. Aber gerade 2012 konnte ich trotz der großen Enttäuschung relativ schnell erkennen, dass er unglaublich viel Spaß an der Arbeit mit der Mannschaft und eine sehr enge Bindung zu den Spielern hatte. Das hat der WM-Titel zwei Jahre später bestätigt.

Es gab bei Löw immer wieder den Vorwurf, Spiele vercoacht zu haben. Wie groß war denn Ihr Einfluss, ihn vielleicht auch mal von Fehlentscheidungen abzuhalten?

Bierhoff: Wir haben ständig im Team diskutiert, und meine Meinung wurde im Trainerkreis immer gehört, das ist jetzt bei Hansi Flick genauso. Aber es war auch eine Stärke der sportlichen Leitung, dass jeder genau wusste, welche Position er hat. Was auf dem Platz passiert, entscheiden die Trainer und die letzte Entscheidung trifft der Bundestrainer. Und sehr häufig war es auch so, dass ich anderer Meinung als Jogi war, aber seine Maßnahmen voll aufgegangen sind. Da habe ich dann immer gemerkt, welche Qualitäten er als Trainer hat. Deshalb hatte ich nie den Anspruch, sportliche Entscheidungen zu beeinflussen.

Den Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit mit Löw war sicherlich der WM-Triumph 2014 in Brasilien. Lag ihr größter Anteil an der erfolgreichen Mission in der Entscheidung zum Bau des Mannschaftsquartiers "Campo Bahia"? Und wie knapp war es mit der rechtzeitigen Fertigstellung?

Bierhoff: Im Nachhinein bin ich schon stolz auf die Umsetzung unserer Idee. Ich muss aber zugeben, dass ich das Projekt etwas unterschätzt habe. Fünf Tage vor unserer Abreise nach Brasilien hat mich der Bauleiter angerufen und gesagt: Hier steht noch keine Küche. In dem Moment ist mir bewusst geworden, welche Verantwortung ich für die Mannschaft habe. Manche Spieler bereiten sich ewig auf so einen Karriere-Höhepunkt vor und dann gelingt es mir womöglich nicht, die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Turnier zu schaffen. Und ich wusste, dass es wahrscheinlich mein berufliches Ende beim DFB gewesen wäre, hätte es mit dem Campo Bahia nicht geklappt. Aber auch dieses Beispiel bestätigt: Ohne Risiko kann der große Wurf nicht gelingen.

Joachim Löw Oliver Bierhoff Germany Berlin 07152014AFP

Welche besonderen Momente sind Ihnen vom Turnier geblieben?

Bierhoff: Hängen geblieben ist sicherlich vor allem der 7:1-Sieg im Halbfinale über Brasilien und diese erschreckende Stille im Stadion von Belo Horizonte, wo wir wirklich mit den Menschen gelitten und uns draußen auf der Bank gedacht haben: Jungs, bleibt einfach stehen und hört auf, weiter Tore zu schießen. Ich bin sehr stolz darauf, dass die Mannschaft die Partie mit Demut und fairem Sportsgeist zu Ende gespielt hat.

Welchen Erinnerungen haben Sie an die die letzten Minuten des Endspiels gegen Argentinien?

Bierhoff: Ich saß relativ nahe am WM-Pokal und hatte immer das Gefühl, dass der ein Stückchen mehr auf unserer Seite steht (lacht). Natürlich haben wir alle eine unglaubliche Anspannung gespürt, aber irgendwie hatten wir das Gefühl: Die Zeit ist reif, das ist diesmal unser Ding. 

Sie haben selbst den bitteren Beigeschmack beim unnötigen Halbfinal-Aus 2016 erwähnt, 2018 bei der WM und 2021 bei der EM scheiterte die Mannschaft dann noch deutlich früher. Sehen Sie im Nachhinein einen Grund, warum es nach der Nacht von Rio abwärts ging?

Bierhoff: Ich möchte schon darauf hinweisen, dass es nicht die gesamte Zeit bis 2021 nur noch sportliche Rückschläge gab, auch wenn das manchmal so dargestellt wird. 2016 hatten wir eine hohe Qualität im Team, haben Frankreich im Halbfinale phasenweise schwindelig gespielt und sind dann durch einen ärgerlichen Handelfmeter auf die Verliererstraße geraten. 2017 haben wir souverän den Confed Cup und obendrein jedes Länderspiel in diesem Jahr gewonnen. Und als wir im Frühjahr 2018 vor der WM 1:1 gegen Spanien gespielt haben, war in den meisten Medien die Rede davon, dass sich in diesem Spiel die beiden aktuell stärksten Mannschaften der Welt gegenüber gestanden hätten. Deshalb tut es mir ein bisschen weh, wenn man aus einem schlechten Turnier gleich fünf, sechs schlechte Jahre macht.

Weil am Ende die Leistungen bei Turnieren maßgeblich für die Bewertung sind.

Bierhoff: Es ist nach einem großen Titelgewinn einfach schwer, dieses hohe Niveau zu halten. Das war bei fast allen anderen Nationen auch so, nicht ohne Grund sind mit einer Ausnahme seit 2002 alle Weltmeister im darauffolgenden Turnier schon in der Gruppenphase ausgeschieden. Ob Frankreich, Spanien oder Italien: wahrscheinlich wird unterbewusst der entscheidende Knopf nicht gedrückt, um nochmal die letzten Prozente rauszuholen. Man geht nicht mehr an die Grenze, obwohl man es will. Das war bei uns vor allem 2018 der Fall.

Der Schock danach in der Öffentlichkeit war vielleicht auch deshalb so groß, weil sich die deutsche Mannschaft über Jahrzehnte bei Turnieren auch dann durchgemogelt hat, wenn sie nicht so schönen Fußball gespielt hat und nie in einer WM- Vorrunde ausgeschieden sind.

Bierhoff: Aber bei der EM 1968 war Deutschland gar nicht dabei und ist bei den Turnieren 2000 und 2004 auch in der Vorrunde ausgeschieden. Unabhängig davon ist es aber richtig: Wir hatten von den Namen her 2018 weiterhin eine sehr hohe Qualität im Kader, aus der man schon den Anspruch an uns ableiten konnte, jedes Spiel gewinnen zu müssen. Aber die Konstellation innerhalb der Mannschaft hat irgendwie nicht gepasst.

Sie standen nach dem WM-Aus massiv in der Kritik, doch schon vorher gab es viel Gegenwind. Fans und Medien haben Ihnen immer wieder Arroganz und Besserwisserei vorgeworfen, der Spiegel schrieb von der "Bierhoffisierung der Nationalmannschaft". Wie sind Sie damit umgegangen und wie gehen Sie heute damit um?

Bierhoff: Ich habe mich immer damit beruhigt, dass Uli Hoeneß rund 30 Jahre lang als Bayern-Manager angefeindet wurde. Und er hatte immer Erfolg. Dass ich polarisiere und immer wieder Themen anstoße, die dann zu Diskussionen führen, gehört zu meinem Job. Ich habe oft auch bewusst provoziert, um etwas in Bewegung zu setzen. Was den Vorwurf der Kommerzialisierung der Nationalmannschaft angeht: Bei Profiklubs fließt ein erheblicher Prozentsatz der Einnahmen an Spieler und Berater, geht also aus dem System heraus. Bei uns gehen 85 Prozent an die Basis. Insofern weiß ich, dass die Aussage nicht populär ist, aber da folge ich meinen Überzeugungen: Die Vermarktung der Nationalmannschaft ist notwendig, weil der DFB dieses Geld für die Fußballentwicklung an der Basis benötigt und damit er seiner sozialen Verantwortung gerecht werden kann.

Oliver Bierhoff DFB 20102017Getty Images

Trotzdem hatte man öfter den Eindruck, dass beim DFB das Rad etwas überdreht wurde…

Bierhoff: Die gleichen Medien, die eine Eventisierung der Nationalmannschaft beklagen, berichten am Tag danach begeistert über den Super Bowl oder darüber, dass die NFL jetzt nach Deutschland kommt. Dabei gibt es kein kommerzielleres Produkt als die NFL. Daher muss man sich von dieser Kritik freimachen. Ich bin nicht frei von Fehlern und wir haben an der ein oder anderen Stelle sicherlich überzogen. Das bekommen wir dann auch zu spüren und werden dafür zu Recht in die Verantwortung genommen. Aber am Ende muss ich machen, was ich für richtig halte. Und wenn man auf die vergangenen 18 Jahre schaut, ist es dem DFB damit nicht schlecht gegangen.

Waren Sie trotzdem mal an dem Punkt, an dem Sie angesichts der Kritik gedacht haben: Macht euren Kram doch alleine?

Bierhoff: Jeder stellt sich doch schon mal die Frage, wie er sich weiterentwickeln kann und ob dafür vielleicht auch mal ein Ortswechsel nötig ist. Ich habe auch regelmäßig sehr reizvolle und lukrative Angebote erhalten. Aber es macht mir trotz der Herausforderungen und Widrigkeiten, die teilweise zu überwinden sind, unheimlich viel Freude, für die Nationalmannschaft und den DFB zu arbeiten. Das ist für mich nach wie vor ein Traumjob. Außerdem habe ich den Bau des neuen Campus mit der Akademie sowie weitere Innovationen angestoßen. Daher fühle ich mich immer auch in der Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und unseren Projekten.

Hätten Sie Jogi Löw nicht vielleicht schon auf dem Höhepunkt 2014, spätestens aber nach dem WM-Debakel 2018 eine Tür aufmachen können oder müssen für einen geordneten Rückzug?

Bierhoff: Ich hatte keine Anzeichen, dass Jogi nicht mehr der richtige Mann auf seinem Posten war. Ganz unabhängig davon, dass es nicht meine alleinige Entscheidung war und ist, den Bundestrainer zu entlassen. Natürlich habe ich mir immer die Frage gestellt: Ist das möglich, über ein Jahrzehnt und länger erfolgreich zu arbeiten? Dann habe ich an Erfolgsgeschichten von Trainern gedacht, die mindestens genauso lange mit einer Mannschaft gearbeitet haben, ob Otto Rehhagel bei Werder Bremen oder Arsene Wenger bei Arsenal. Und auch Uli Hoeneß oder Karl-Heinz Rummenigge hat man nicht nach zehn Jahren aufgefordert, zu gehen. Daher habe ich immer auf die Entwicklung der Mannschaft geschaut und darauf, wie Jogi mit den Spielern arbeitet. Und da hatte ich nie Zweifel an ihm.

Trotzdem mussten Sie nach der EM 2021 einen neuen Bundestrainer finden und bis wenige Wochen vor Saisonende war nicht klar, dass Hansi Flick zur Verfügung stehen würde. War die Situation ein Glücksfall für Sie und den DFB?

Bierhoff: Ich bin überglücklich, weil Hansi die Top-Besetzung für den Posten ist. Er kennt den DFB lange und aus verschiedenen Perspektiven, er ist ein Sympathieträger und ein herausragender Trainer. Ich glaube, gerade nach der abgelaufenen Saison erkennt man, was für eine Leistung er bei Bayern München mit sechs gewonnenen Titeln in einem Jahr vollbracht hat. Ich hätte ihn am liebsten schon zum DFB zurückgeholt, als er in Hoffenheim 2018 als Vorstand aufgehört hat. Aber er war damals erst ein gutes Jahr vorher freiwillig vom DFB weggegangen. Jetzt war er mein absoluter Traumkandidat und ich habe bei Hansi sehr früh gespürt, dass Bundestrainer sein Wunschjob ist – trotz anderer Angebote. Wie er seine Aufgabe jetzt angeht und was er einfordert, aber auch einbringt, ist einfach top.

Das erklärte Ziel ist und bleibt der Titel bei der Heim-EM 2024?

Bierhoff: Es wäre mal an der Zeit, 28 Jahre nach meinem Siegtreffer 1996 wieder Europameister zu werden. Der Druck wird zu Hause natürlich wieder enorm sein. Wir wollen in jedem Fall bis 2024 zurück an der Weltspitze sein. Diesem Anspruch stellen wir uns und dazu brauchen wir eine Entwicklung in der Mannschaft. Und bei diesem Prozess kann auch die WM in Katar helfen, wobei wir dort schon das Maximale erreichen, also um den WM-Titel mitspielen wollen. Aber ich glaube, dass wir zwei Jahre später bei der EM mit Spielern wie Jamal Musiala, Florian Wirtz, Nico Schlotterbeck oder David Raum nochmal stärker sein können. Dieses Heimturnier ist für den deutschen Fußball von ganz großer Bedeutung.

Trotz der genannten jungen Spieler hat der DFB seit einigen Jahren ein gravierendes Nachwuchsproblem. Wie wichtig ist vor diesem Hintergrund die Fertigstellung der Akademie, die Sie selbst als Quantensprung für den deutschen Fußball bezeichnet haben?

Bierhoff: Dieser Ort, an dem man zusammenkommt und Fußball erlebt und entwickelt und wo wir ständig unsere wichtigsten Akteure präsent haben, ob Trainer*innen, Spieler*innen oder Expert*innen, kommt dem ganzen Fußballsystem zugute, also nicht nur dem Verband, sondern auch den Vereinen. Hier können wir die gesamte Kraft des deutschen Fußballs nutzen und ihn stärken.

Wäre ein EM-Sieg 2024 vor eigenem Publikum ein perfekter Abschluss, wenn Ihr Vertrag beim DFB ausläuft? Oder kann es wie bei Uli Hoeneß auch noch zehn Jahre weitergehen?

Bierhoff: Ich habe mir früher immer sehr viele langfristige Pläne gemacht, jetzt lasse ich die Dinge etwas mehr auf mich zukommen. Deshalb kann ich zu der Zeit nach 2024 im Moment noch nichts sagen. Bis dahin stehe ich auch bei Hansi im Wort, weil wir im Team zurück an die Weltspitze wollen. Außerdem sind es noch mehr als zwei Jahre Zeit, mir konkrete Gedanken zu machen. Das ist im schnelllebigen Fußballgeschäft ja fast schon eine Ewigkeit.

Werbung