DFB-Team - Hansi Flicks Co-Trainer Danny Röhl im Interview vor der WM: "Ich kann mir Offensive und Defensive Coordinator im Fußball vorstellen"

Danny Röhl ist mehr als ein gewöhnlicher Co-Trainer, der 33-Jährige ist seit einigen Jahren die rechte Hand von Hansi Flick. Erst beim FC Bayern, jetzt bei der Nationalmannschaft. Röhl ist ein analytisches Mastermind, das in jungen Jahren schon einen bemerkenswerten Karriereweg hingelegt hat. Er begleitete das Projekt RB Leipzig von der Stunde null an, er machte Erfahrungen in der Premier League, er gewann mit den Bayern das Triple.

Im großen Interview mit GOAL und SPOX spricht Röhl vor dem Start der WM in Katar (DFB-Team vs. Japan, 23. November, 14 Uhr) über das Kennenlernen mit Flick und philosophiert über Themen wie Videoanalysen, die Wichtigkeit von Daten im Fußball und besondere Fähigkeiten, die ein Trainer haben muss.

Außerdem beschreibt Röhl das Ausmaß seiner Fußball-Verrücktheit und erklärt, welchen Trend er bei der WM erwartet.

Herr Röhl, Sie haben mit gerade mal 33 Jahren schon eine interessante Vita im Trainerbereich vorzuweisen. Was hat eigentlich eine größere Spielerkarriere verhindert?

Danny Röhl: Ich hätte selbstverständlich nichts gegen eine größere Spielerkarriere einzuwenden gehabt. Ganz talentfrei war ich auch nicht, würde ich behaupten. Ich war in der Jugend ein schneller Typ, der die Außenbahn rauf und runter gerannt ist. Mein großes Problem war, dass ich in den entscheidenden Jahren, in denen du den Sprung nach oben schaffen musst, zwischen der U16 und der U18, acht oder neun Operationen hatte. Ich war die ganze Zeit über wirklich nur verletzt. So ist der Zug Richtung Profifußball ohne mich abgefahren. Ich habe zwar dann neben meinem Sportwissenschafts-Studium in Leipzig noch in der Oberliga gekickt, aber als ich mir das Kreuzband gerissen habe, war es endgültig vorbei. Ich empfand dieses Ende aber gar nicht als so dramatisch.

Warum denn nicht? War es nicht Ihr Traum?

Röhl: Andere und auch ich selbst haben früh erkannt, dass ich ein Spiel ganz gut lesen konnte. Ich habe mit 16 Jahren schon gesagt, dass ich Trainer werden will. Und es war schon am Anfang meines Studiums mein Ziel, mit 30 Jahren in der Bundesliga zu arbeiten. Mir war sehr früh sehr klar, was ich will. Mein Glück war, dass genau zum richtigen Zeitpunkt das Projekt RB Leipzig entstanden ist.

Dort sind Sie im Jugendbereich eingestiegen.

Röhl: Ich war der erste Videoanalyst bei RB im Nachwuchsbereich und habe gleichzeitig auch bei verschiedenen Jugend-Mannschaften von RB als Co-Trainer gearbeitet. Ich liebe es, Praxis und Theorie miteinander zu verbinden. Für mich war es immer extrem wichtig, nicht nur irgendwo im Keller den ganzen Tag lang Videos anzuschauen und Analysen zu erstellen, sondern auch auf dem Platz zu stehen und die verschiedenen Bereiche miteinander zu verknüpfen. Die Video- und Spielanalyse war für mich der Theorie-Teil. Wir dürfen nicht vergessen, wie klein dieses Thema damals noch war, als ich angefangen habe. Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen.

Bitte.

Röhl: Wir haben 2013 eine Studienreise zu Manchester City unternommen, die damals unter Manuel Pellegrini Meister geworden waren. Ich war fast schockiert von den Strukturen und der Manpower, die ich dort gesehen habe. Für die erste Mannschaft haben damals schon fünf Videoanalysten gearbeitet, sogar jede einzelne Nachwuchsmannschaft hatte einen eigenen Analysten. Das ist Standard in England. Als ich später in Southampton gearbeitet habe, bin ich jeden Tag in den Trakt gelaufen, in dem die Scouting- und Analyseabteilung sitzt. Dort haben 30 Personen an ihren Rechnern gearbeitet. Das ist eine ganz andere Dimension. Im Vergleich dazu steckt das Thema in Deutschland heute noch in der Entwicklung, auch wenn sich inzwischen schon einiges getan hat.

Danny Röhl: "Machst Du noch diese Filme?"

Wie viel Wert wurde denn damals in Deutschland auf Videoanalysen gelegt?

Röhl: Ich erinnere mich noch gut an die ersten Sätze oder Fragen, die ich an den Sportplätzen zu hören bekam, wie "Machst Du noch diese Filme?" (lacht) Heute haben alle großen Trainer ihren eigenen Analysten im Stab, bei vielen ist die Beziehung schon im Jugendbereich entstanden, aber damals hielt sich die Wertschätzung noch in Grenzen. Im Endeffekt war das zu diesem Zeitpunkt nicht viel mehr als eine Zusammenstellung von banalen Highlights. Da waren wir weit weg von Scouting-Feeds. Das Interesse der Spieler war auch noch gar nicht so vorhanden. Erst seit der Entstehung der Akademien fordern die Spieler selbst, dass auch auf diesem Gebiet mit ihnen gearbeitet wird.

Danny Röhl Hansi Flick Germany 2021Getty

Sie haben sich dann bei RB immer weiter nach oben gearbeitet. Alexander Zorniger war es, der Sie in Vollzeit zur ersten Mannschaft geholt hat. Da waren Sie gerade mal 23.

Röhl: Ich habe bei RB mit ganz vielen interessanten Persönlichkeiten zusammenarbeiten dürfen. Bei Alex Zorniger war die Konsequenz, mit der er seine Spielidee verfolgt hat, beeindruckend. Bei Ralf Rangnick, ohne den RB niemals diesen Weg hätte gehen können, war es spannend zu sehen, wie er bei jeder einzelnen Mitarbeiter-Auswahl auf höchste Qualität geachtet hat. Ralf war enorm fordernd, aber auch fördernd. Er hat jeden Mitarbeiter durch seine Führungsweise weiterentwickelt. Und dann war Ralph Hasenhüttl natürlich ganz entscheidend für mich. Er ist ein unglaublich empathischer Mensch und schafft es dadurch auch, ein sehr leistungsförderndes Klima zu schaffen. In dieser Zeit als zweiter Co-Trainer neben Zsolt Löw habe ich mich noch einmal sehr gut weiterentwickeln können, weil Ralph mir die Chance dazu gegeben und mir viel Vertrauen geschenkt hat, wenn es zum Beispiel um die Gegner-Vorbereitung ging.

Was es zu erwähnen gilt: Sie haben irgendwie nebenher noch an der Sporthochschule in Köln studiert. Wie haben Sie das alles unter einen Hut bekommen?

Röhl: Es war schon sehr viel. Neben dem normalen Bundesliga-Geschäft noch eine Masterarbeit zu schreiben, hat mich an meine Grenzen gebracht. Aber ich wollte es unbedingt. Ich hatte diesen Ehrgeiz. Mir war immer sehr bewusst, dass ich ohne Fleiß nicht an den Job komme, den ich eines Tages machen möchte. Also habe ich eben Nachtschichten eingelegt. Ich bin aber auch von Natur aus einfach sehr perfektionistisch veranlagt. Gut reicht mir nicht, es muss perfekt sein.

Danny Röhl: "Zwischen 0.15 Uhr und 3 Uhr habe ich mir Aufnahmen vom FC Chelsea angeschaut"

Was heißt das konkret?

Röhl: Wenn wir beispielsweise über das Verschieben auf dem Platz sprechen, dann kann ich nicht sagen, dass ein, zwei Meter nicht den ganz großen Unterschied machen. Doch, sie machen den Unterschied. Sie entscheiden nämlich im Zweifel darüber, ob der Pass in die Schnittstelle möglich ist, oder eben nicht. Mit dieser Akribie lebe ich und gehe ich an meine Aufgaben heran. In Southampton hatten wir in der Weihnachtszeit so viele Spiele, dass Silvester für mich praktisch ausfiel. Wir haben um Mitternacht angestoßen und zwischen 0.15 Uhr und 3 Uhr habe ich mir Aufnahmen vom FC Chelsea angeschaut. So ticke ich. (lacht)

In Ihrer Masterarbeit haben Sie sich mit dem Thema "Zusammenhang von taktischen Systemen und der Häufigkeit erzielter Tore im Sportspiel Fußball" beschäftigt. Was war das Ergebnis?

Röhl: Ich habe dafür eine Saison von Borussia Dortmund unter Trainer Thomas Tuchel analysiert und untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen dem System, also ob man mit einem, zwei oder drei Stürmern spielt, und der Anzahl der erzielten Tore und der Qualität der Torchancen gibt. Das Resultat war, dass ich keinen signifikanten Zusammenhang herleiten konnte. Allerdings muss ich sagen, dass die Studie noch nicht tief genug ging. Ich bin immer nur von der Startaufstellung und der erwarteten Grundordnung ausgegangen, aber im nächsten Schritt müsste man es sich noch detaillierter anschauen. Waren es wirklich zwei Stürmer? Oder hat einer von ihnen nicht doch mehr wie ein Zehner agiert? Wie aktiv waren die Achter im 4-3-3? So weit bin ich in meiner Arbeit dann nicht gegangen.

Sie sind dem Ruf von Ralph Hasenhüttl nach Southampton gefolgt. Warum haben Sie Leipzig verlassen?

Röhl: Es gab zwei Gründe. Zum einen habe ich nach neun Jahren in Leipzig gemerkt, dass ich gerne eine neue Erfahrung machen möchte. Es war an der Zeit. Zum anderen hatte ich die Chance, in eine etwas anders gelagerte Rolle zu schlüpfen. Als Assistant Manager konnte ich deutlich mehr Verantwortung übernehmen als in meinen vorherigen Rollen. Egal, ob es um Transfers, Aufstellung oder Trainingssteuerung ging, ich war in alles eingebunden. Mein Aufgabengebiet war noch einmal deutlich vielfältiger als vorher, das hat es so reizvoll und spannend gemacht.

Was waren Ihre ersten Eindrücke von der Arbeit in der Premier League?

Röhl: Mich hat es fasziniert, wie sehr der Fußball in der Premier League die Fans beeinflusst. Wenn du attraktiven und offensiven Fußball bietest, ist das Publikum sofort begeistert. Aber wenn du nichts anbietest, verstummen die Fans auch schnell. In Deutschland sorgen die Ultras durchgängig für Alarm. Ein Spiel in der Premier League ist dagegen wie eine Aufführung im Theater, du bekommst sofort Feedback. Besonders spannend aus Trainersicht fand ich die verschiedenen Einflüsse. Es gibt einen deutschen Trainer, einen österreichischen, einen spanischen, einen italienischen, einen französischen, einen englischen - und jeder bringt sein Element mit in diese Liga ein. Das macht die Gegneranalyse noch einmal herausfordernder als in der Bundesliga, weil dort die Spielsysteme viel ähnlicher sind.

Es war zu hören, dass Southampton große Stücke auf Sie setzte und Sie auch für eine noch größere Rolle auf dem Zettel hatte. Warum sind Sie dennoch zu den Bayern gewechselt?

Röhl: Ganz ehrlich: Wenn du einen Anruf von Bayern München bekommst, stellst du dir schon die Frage, wie oft dieser Anruf in deinem Leben wohl kommen wird. Wie oft bekomme ich diese Chance? Entscheidend waren für mich die Gespräche mit Niko Kovac und damals auch schon mit Hansi Flick. Wir haben natürlich auch viel über Fußball und taktische Inhalte gesprochen, man muss ja ausloten, ob die Sichtweisen sich decken, aber für mich war die menschliche Ebene noch viel wichtiger. Wir verbringen im Trainerstab mehr Zeit zusammen als mit unseren Familien. Wenn dann die Atmosphäre nicht zu hundert Prozent stimmt, käme eine Aufgabe für mich nicht infrage. Aber es hat sich sofort sehr gut angefühlt, sodass mir der Schritt letztlich leichtgefallen ist.

Ihr offizieller Titel lautete anfangs Co-Trainer Analyse. Was war genau Ihr Aufgabengebiet?

Röhl: Erstmal finde ich, dass wir bei den Bayern einen total spannenden Stab hatten mit Niko und Robert Kovac, Hansi Flick mit seiner unglaublichen Erfahrung auch aus der Nationalmannschaft und dann als viertem Part mit mir als einem jungen aufstrebenden Trainer. Generell war es meine Aufgabe, eine Art Verbindungsglied zwischen der Video- und Analyseabteilung sowie den Profis zu sein. Aber auch Matchpläne zu erstellen, den kommenden Gegner zu studieren, die eigene Mannschaft nach Spielen gruppentaktisch und individuell zu beleuchten oder Feedback-Gespräche zu führen. Wie kann ich aus einer Analyse Trainingsübungen kreieren? Wie kann ich Situationen am besten auf dem Platz nachstellen? Da sind wir wieder bei der Kombination von Theorie und Praxis, die mir so viel Spaß macht.

Danny Röhl: "Hansi schafft es, aus einem Ihr ein Wir zu machen"

Es gab damals eine Zeit, in der sich fast alles um die Coutinho-Verpflichtung drehte.

Röhl: Und es wurde viel zu viel über mögliche Systeme gesprochen. Es geht nicht darum, ob eine Mannschaft im 4-3-3- oder 4-4-2-System spielt. Entscheidend sind die Räume, die besetzt werden, nicht die statischen Positionen. Coutinho kann in jedem System spielen. Die Frage ist immer, wie ein Spieler seine Rolle lebt. Jeder Trainer möchte grundsätzlich eine so hohe Flexibilität erreichen, dass jeder Spieler auch im Spiel sofort switchen kann. Deshalb ändert Julian Nagelsmann auch gerne die Grundordnung während des Spiels. Auch weil er neue Reize beim Gegner erzeugen will. Wenn der Gegner einen Moment lang neue Antworten suchen muss, gehen oft Räume auf.

Hansi Flick Germany 16112022Getty

Nachdem sich die Bayern von Niko Kovac trennten, feierten Sie an der Seite von Hansi Flick am Ende der Saison das Triple. Zwischen Flick und Ihnen hat es sofort gepasst. Wann haben Sie es gemerkt, dass sie so ein gutes Gespann sind?

Röhl: Hansi und ich kannten uns anfangs noch nicht so gut, deshalb war das ein Prozess. Wir haben uns zuerst über die inhaltliche Schiene kennengelernt, wir haben zusammen die Gegner-Vorbereitung gemacht und standen in sehr engem Austausch. Da haben wir schon gemerkt, dass wir Fußball ähnlich denken und sehen. Und dann kam natürlich die menschliche Komponente hinzu. Wenn man den ganzen Tag lang in einem Büro zusammensitzt, merkt man schnell, ob man harmoniert, ob man den gleichen Humor hat. Das hat alles so gut gepasst, dass wir uns im Laufe der Zeit nicht nur über Fußball ausgetauscht, sondern uns auch privat super verstanden haben. Wir haben das Gefühl füreinander entwickelt, dass der eine sich zu tausend Prozent auf den anderen verlassen kann.

Was macht den Trainer Hansi Flick für Sie aus?

Röhl: Hansi findet für jeden Spieler zur richtigen Zeit die richtigen Worte. Eine Fußball-Mannschaft ist voll von verschiedenen Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Vorlieben und Charaktereigenschaften. Da kannst du im Umgang keine Schablone drüberlegen. Hansis große Kunst ist es, dass er es perfekt schafft, auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen. Jeden richtig anzupacken. Jeder Spieler hat immer auch persönliche Ziele. Du musst es als Trainer aber schaffen, dass jeder das große Ganze sieht und sich in seiner Rolle wiederfindet. Dafür musst du ein extrem guter Kommunikator sein und das ist Hansi. Hansi schafft es, aus einem Ihr ein Wir zu machen.

Danny Röhl: "Die Kommunikation mit den Führungsspielern und Playmakern ist ganz entscheidend"

Nagelsmann hat mal erklärt, dass er je nach Spielverlauf entweder einen Spieler mit Qualität oder einen Spieler mit Mentalität bringt und generell immer in Einwechslungen statt in Auswechslungen denkt.

Röhl: Eine der größten Qualitäten eines Trainers ist die Fähigkeit, in einem Spiel von außen aktiv einzugreifen. Öfter sehen wir dann die Zettel, die auf dem Platz weitergereicht werden, aber das ist eben einfach der schnellste und beste Weg, um die Spieler zu erreichen. Ich saß zu Beginn meiner Zeit in München auf der Tribüne, machte quasi eine Live-Analyse und befand mich in ständigem Austausch mit Hansi Flick. Es gab eine klare Aufgabenverteilung und ein Zusammenspiel zwischen Hansi, den Co-Trainern und den Analysten. Denn die Kommunikation mit den Führungsspielern und Playmakern ist ganz entscheidend. Vor allem schon im Vorfeld eines Spiels, wenn Szenarien durchgespielt werden, damit dann auf dem Feld schnell reagiert werden kann. Wenn man Matchpläne erstellt, kümmert man sich immer auch um die "Wenn, dann..."-Fälle, man erstellt also immer auch einen Plan B und C, um reagieren zu können. So machen wir es bei der Nationalmannschaft auch.

Die Vorbereitungszeit auf die WM ist so kurz wie nie, generell hat man in der Nationalmannschaft naturgemäß viel weniger Zeit, seine Spielphilosophie zu implementieren. Was ist der Schlüssel, dass es trotzdem gelingt?

Röhl: Wir sind unsere Tätigkeit bei der Nationalmannschaft mit der Einstellung angegangen, dass die Vorbereitung auf die WM sofort beginnt und nicht erst in den wenigen Wochen vor Turnierbeginn, in denen man dann alles reinknallt. Wir befinden uns also seit 15 Monaten in der WM-Vorbereitung. Es ist ein stetiger Prozess. Wir hatten dabei Phasen, die herausragend gut waren. Wir hatten aber auch Phasen, in denen wir mehr zu kritisieren hatten, weil wir unser Potenzial nicht voll ausgeschöpft haben. Es geht uns bei der Nationalmannschaft nicht in erster Linie darum, vier oder fünf Systeme spielen zu können.

Sondern?

Röhl: Es geht darum, unsere Grundprinzipien und Grundüberzeugungen auf den Platz zu bringen, ob mit oder gegen den Ball, oder im Umschaltverhalten. Der Schlüssel wird sein, wie wir uns im Verlauf des Turniers weiterentwickeln. Eine WM wird dich vor Herausforderungen und vor neue Aufgaben stellen, genau dann musst du nochmal einen Sprung machen und eine neue Leistungsstufe erklimmen. Wenn uns das gelingt, werden wir auch eine sehr gute Rolle spielen.

Entscheiden auf dem höchsten Niveau am Ende nicht doch auch immer die Individualisten die Spiele und Turniere?

Röhl: Du brauchst in den entscheidenden Momenten die besonderen Spieler, keine Frage. Du brauchst diesen einen genialen finalen Pass, diese eine überragende Aktion zum Tor. Aber Grundvoraussetzung dafür, dass es dazu überhaupt kommen kann, ist ein funktionierendes Teamgebilde, das diese Einzelleistungen erst ermöglicht. Deshalb ist es von so großer Bedeutung, dass jeder seine Rolle innerhalb des Teams kennt und sie total annimmt.

Jamal Musiala könnte der Spieler sein, der Deutschland schon bei der WM durch seine individuelle Klasse weit nach vorne bringt.

Röhl: An Jamal begeistert mich seine Bodenständigkeit. Er ist so ein feiner und empathischer Mensch, der eine große Bescheidenheit an den Tag legt. Der sehr wissbegierig und neugierig, sehr aufmerksam und immer total fokussiert ist, seine Aufgabe auf dem Platz gut zu erfüllen. Und du siehst ihm in jeder Sekunde an, wie gerne er Fußball spielt. Er gibt der Mannschaft eine gute Energie. Dass er darüber hinaus überragende fußballerische Fähigkeiten hat, sieht jeder.

Wenn wir das Bild etwas weiter fassen. Tobias Escher hat in seinem Buch "Was Teams erfolgreich macht" die Formeln des Erfolgs beleuchtet, da geht es u.a. auch um die französische Nationalmannschaft. Was ist aus Ihrer Sicht die Formel für einen Erfolg bei der Nationalmannschaft? Nicht nur konkret auf die anstehende WM bezogen.

Röhl: Wenn ich an eine Formel für Erfolg denke, dann ist es ganz entscheidend, eine gemeinsame Vision zu kreieren. Eine Vision für die Spieler, für alle Trainer, für den gesamten Stab drumherum. Diese Vision und damit einhergehend auch eine Zielstellung musst du sehr klar formulieren und dann auch einfordern. Das hat Hansi sehr früh schon gemacht. Unser Slogan ist: Nationalspieler bist du immer. Das kann aber übertragen werden auf alle anderen bei uns im Team. Co-Trainer der Nationalmannschaft bist du immer. Physio der Nationalmannschaft bist du immer. Jeder gehört dazu, jeder muss den Weg und das Ziel kennen - und jeder muss sich tagtäglich weiterentwickeln wollen. So schaffst du eine klare Identität, wofür du nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz stehen willst.

Der Fußball hat sich in den vergangenen Jahren stark entwickelt. Inzwischen spielen Daten zumindest eine ähnliche Rolle, wie sie es beispielsweise in der NFL schon länger spielen. Alle großen Klubs haben eigene Datenabteilungen mit absoluten Masterminds. Wie gehen Sie mit dem Thema um?

Röhl: Daten sind mittlerweile ein extrem großes Thema. Ich beschreibe es immer so: Es muss ein Wechselspiel geben aus dem Analytics-Bereich und der eigenen qualitativen Beobachtung. Heutzutage geht im Fußball das eine nicht mehr ohne das andere, davon bin ich überzeugt. Dir muss es gelingen, die Theorie anhand der Daten in die Praxis zu überführen. Du musst aber auch genau schauen, welche Daten für dich entscheidend sind, die Daten müssen zu deiner Spielidee passen. Zum Beispiel: Wenn ich ein Team habe, das den Fokus auf hohes Pressing legt, dann muss ich mir darauf spezifisch ausgelegt die Daten anschauen. Wie viele hohe Ballgewinne generiere ich? Warum generiere ich sie? Oder warum habe ich da ein Problem? Ich muss schauen, was wirklich relevant für mich ist. Wir haben bei der Nationalmannschaft inzwischen umfangreiche Reports, bei denen wir uns positions- oder spielerspezifisch Daten geben lassen, am Anfang war das ein One-Pager. Das zeigt die Entwicklung.

Danny Röhl: "Es führt dazu, dass Fußball häufig sehr banal besprochen wird"

Behandeln wir das Thema in der Öffentlichkeit immer noch zu stiefmütterlich?

Röhl: Mir fehlen in den öffentlichen Diskussionen oft die Zwischentöne, es gibt meist nur Schwarz-Weiß-Denken. Es fehlt das Hintergrundwissen an vielen Stellen, ob das beim Thema Daten ist oder bei Entscheidungen eines Trainers, die man unter Umständen nicht nachvollziehen kann. Weil niemand die Interna kennt und zum Beispiel weiß, wie die Absprachen beim Anlaufverhalten waren. Am Ende führt das dazu, dass Fußball häufig sehr banal besprochen wird, dann wird zum Beispiel schnell fehlende Mentalität bemängelt. Weil verständlicherweise das Hintergrundwissen für eine andere Einschätzung fehlt.

Etwas ganz neu zu erfinden, ist praktisch unmöglich geworden im Fußball. Aber in welche Richtung könnte es denn noch gehen?

Röhl: Das ist eine gute Frage. Das Thema Virtual Reality ist sicher ein großes. In Leipzig haben wir mit dem SoccerBot gearbeitet. Einem 360-Grad-Simulator, der es ermöglicht, das Spiel aus dem Blickwinkel des Spielers zu sehen. Was sieht der Spieler eigentlich im Gegensatz zu meiner Perspektive auf der Tribüne? Ich war auch mal bei den NY Jets aus der NFL, dort habe ich gesehen, wie die Quarterbacks mit 3D-Brillen arbeiten. Im American Football haben die Teams ja auch jeweils einen eigenen Coach für die Offensive und Defensive. Ich kann mir Offensive und Defensive Coordinator im Fußball vorstellen, das wäre eine spannende Sache. Die Entwicklung dahin sehen wir ja schon. Wir haben bei der Nationalmannschaft mit Mads Buttgereit einen Spezialisten für Standards, quasi einen Special Teams Coordinator im Trainerteam. Man wird immer mehr Experten für Teilbereiche haben.

Große Turniere sind auch immer ein Zeitpunkt, an dem man nach Trends schaut. Welchen Trend erwarten Sie jetzt bei der WM?

Röhl: Ich weiß nicht, ob es schon ein Trend ist, aber meiner Beobachtung nach schauen die Top-Mannschaften wieder mehr auf sich und passen sich weniger dem Gegner an. Ich gehe davon aus, dass das gerade aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit auch bei der WM der Fall sein wird. Es geht wieder viel mehr darum, seine eigene Idee durchzubringen und seinem eigenen Stil treu zu bleiben.

Wer sind denn die Favoriten für Sie?

Röhl: Ich will mich nicht vor der Antwort drücken, ich könnte jetzt einfach Brasilien und Argentinien nennen, aber ich glaube, dass man keinen Favoriten ausmachen kann. Auf der einen Seite, weil das so stark von der Dynamik im Turnier abhängt. Momentum ist etwas ganz Wichtiges in einem großen Turnier. Und auf der anderen Seite haben wir auch in der Nations League gesehen, wie stark zum Beispiel die Ungarn waren. Die Lücke zwischen den vermeintlichen Top-Mannschaften und den scheinbar kleineren Fußballnationen ist unglaublich gering geworden. Wir müssen als Deutschland den Fokus auf uns richten und die Überzeugung in unsere eigene Stärke haben, dann können wir viel erreichen.

Danny Röhl: "Wenn ich ein Spiel schaue, liegt mein Notizblock immer direkt neben mir"

Zum Abschluss nochmal zurück zu Ihnen: Wann wollen Sie Cheftrainer sein?

Röhl: Erstmal ist die Ausbildung zum Fußball-Lehrer, die ich gerade absolviere, der letzte Schritt, den ich noch gehen muss, um alle Voraussetzungen zu schaffen. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir das nicht vorstellen kann, aber gerade ist das kein Thema. Das lasse ich alles auf mich zukommen. Für den Moment bin ich sehr froh, wie sich meine Karriere entwickelt hat. Ich habe bei RB einen Verein von der Stunde null an begleitet und den Aufbau in allen Facetten erlebt. Ich habe in Southampton die phasenweise sehr harte Situation eines Abstiegskampfs in der Premier League durchgemacht und war danach bei einem Weltverein wie Bayern München, der mit Top-Stars arbeitet und Titel gewinnen möchte und muss. Jetzt habe ich beim DFB eine super Herausforderung und Aufgabe, die mich sehr erfüllt. Ich habe einen Cheftrainer, der mir viele Freiheiten gibt und meine Entwicklung damit auch zulässt. Dafür bin ich sehr dankbar. Diese Reise will ich erstmal weiterführen und dann werden wir schauen, was die Zukunft bringt. Ich habe gelernt, dass es ohnehin schwierig bis unmöglich ist, zu weit nach vorne zu schauen.

Wie viel Zeit bleibt noch für Abwechslung neben dem Fußball?

Röhl: Nicht viel, das gebe ich zu. Mein Leben besteht seit 25 Jahren zu weit über 90 Prozent aus Fußball. Wenn ich ein Spiel schaue, liegt mein Notizblock immer direkt neben mir. Fällt mir eine Szene auf, schreibe ich sie mir sofort auf und lege sie in meinem Ordner mit Anschauungsmaterial ab. Und wenn ich im Urlaub bin, habe ich immer mindestens zwei oder drei Fußballbücher im Gepäck. Ich habe zum Beispiel die Biografie von José Mourinho gelesen. Seine Geschichte hat mich berührt, er hat sich von ganz unten nach oben gearbeitet und erstmal als Dolmetscher angefangen. Ich habe vor einigen Jahren auch mal bei einigen Klubs vorbeigeschaut und die Trainingseinheiten für mich analysiert. Für die Familie ist das nicht immer einfach mit mir, aber sie kennt es nicht anders. (lacht)

Auch da kann man sich aber weiterentwickeln.

Röhl: (lacht) Das stimmt. Ich habe mich auch schon ein bisschen verbessert und nehme mir die Zeit für meine Familie. Aber ich lese in der Freizeit einfach sehr gerne und sauge alles auf. Ich habe aktuell bestimmt mehr als zehn Bücher, die ich noch nicht mal auspacken konnte, weil die Zeit gefehlt hat. Unter anderem das schon erwähnte Buch von Tobi Escher, das habe ich mir auch bestellt.
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