Als der 1. FC Saarbrücken die interessanteste Mannschaft Europas war: Aufstand des Protektorats

Am Ende hatte es nicht ganz gereicht. Der AC Mailand war an diesem 23. November 1955 im mit 15.000 Zuschauern prall gefüllten Saarbrücker Stadion Kieselhumes eine Nummer zu groß.

"Die waren letztlich fitter", sagte Jahre später einer, der live dabei war. Als eine Mannschaft von "Feierabendfußballern" eine mit Weltmeistern, Vollprofis und Superstars gespickte Mailänder Mannschaft im erstmals ausgetragenen Europapokal der Landesmeister an den Rand des Ausscheidens brachte. 

Herbert Binkert war 1955 einerseits Beamter im saarländischen Ministerium, andererseits auch gefürchteter Rechtsaußen des 1. FC Saarbrücken. "Tagsüber war ich im Büro, abends dann beim Training. Dreimal die Woche", erklärte er im Interview mit 11Freunde. Aber die Saarländer waren damals weit mehr als nur eine Ansammlung von "Feierabendfußballern", wie es Binkert formulierte. 

Sie waren die ersten Globetrotter der deutschen Fußballgeschichte - oder vielmehr der saarländischen Fußballgeschichte. Denn damals nach dem 2. Weltkrieg gehörte das Saarland nicht zu Deutschland. 1947 wurde es zu einem französischen Protektorat mit eigener Verfassung, eigener Staatsangehörigkeit, eigener Flagge sowie einer eigenen Hymne. 

1. FC Saarbrücken nach dem Weltkrieg: Politisches Instrument 

Ziel der französischen Besatzer war es, das Saarland endgültig von Deutschland zu trennen und an die französische Wirtschaft anzuschließen. Der Plan: Das Saarland sollte irgendwann gänzlich an Frankreich angeschlossen werden. Der Fußball spielte dabei eine entscheidende Rolle, war er doch das populärste Mittel der Politiker, um für eine Trennung zu werben. 

"Die Fußballer wurden instrumentalisiert. Sie profitierten von großzügiger finanzieller Unterstützung des französischen Hohen Kommissars Gilbert Grandval und des saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann", urteilte beispielsweise der Historiker Wolfgang Harres, Autor des Buches "Sportpolitik an der Saar zwischen 1945 und 1957". 

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Was bedeutete die Teilautonomie für den 1. FC Saarbrücken? In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg spielte der Klub noch durchaus passabel in der deutschen Oberliga Südwest-Nord mit, gewann 1946 sogar die Südwestmeisterschaft. Doch 1948 - in dem Jahr, in dem Binkert zum Verein stieß - wurde Saarbrücken in Folge der Errichtung der Zollgrenze zwischen dem Saarland und Deutschland und dem eingeschränkten Reiseverkehr vom deutschen Ligabetrieb ausgeschlossen. 

1. FC Saarbrücken in der französischen Liga: Meister ohne Ehren 

Stattdessen sollte der sportlich beste Klub der Region in der eigens gegründeten, jedoch konkurrenzschwachen Ehrenliga spielen. Für Hochkommissar Grandval keine Option, da er gerade in den sportlichen Erfolgen der Saarbrücker den schnellsten Weg sah, seinen politischen Auftrag zu erfüllen. 

Die Molschder, wie Saarbrücken später aufgrund des Ludwigsparkstadions im Stadteil Malstatt genannt wurde, wurden mit großem finanziellen Aufwand in die zweite französische Liga integriert. Sogar Bestechungsgelder sollen geflossen sein, damit AS Angouleme zu Gunsten der von Hans Tauchert trainierten Mannschaft auf die Lizenz verzichtet. 

Die Spieler des 1. FC Saarbrücken beeindruckten die damaligen politischen Wirrungen nur wenig. "Gefühlt hatte ich mich als Fußballer, die Politik hat uns an und für sich wenig interessiert", sagte beispielsweise Werner Otto, Binkerts pfeilschneller Konkurrent auf der rechten Außenbahn. 

Unter dem Namen FC Sarrebruck dominierten die Saarländer die zweite französische Division. Allerdings spiegelte sich diese Dominanz in einer Tabelle nicht wider. Saarbrücken spielte die Saison 1948/49 ohne Wertung und war am Ende nur inoffiziell Meister. 

Anschließend wurde den Saarländern nicht nur die Teilnahme an der höchsten Spielklasse in Frankreich aufgrund des Widerstands des elsässischen Rivalen Straßburg untersagt, sondern auch die weitere Teilnahme am Spielbetrieb in Frankreich. Ein Glücksfall für den 1. FC, wie sich später herausstellen sollte.

Saarbrückens Märchen: "Auch Real-Fans verneigten sich" 

Ausgeschlossen von den Ligabetrieben in Frankreich und Deutschland unternahm der Klub zahlreiche Weltreisen und testete seine eigene Konkurrenzfähigkeit in Freundschaftsspielen mit Eliteklubs. 

"Wir waren ständig unterwegs. Wir machten Freundschaftsspiele in Rio de Janeiro, in Sao Paulo, wir spielten in Liverpool 1:1", sagte Binkert rückblickend. Im Frühjahr 1951 verschlug es Saarbrücken nach Spanien. Dort gewannen die Molschder 4:0 gegen den späteren Meister von 1955, Athletic Bilbao, spielten 2:2 gegen La Coruna. 

Besonders in Erinnerung blieb Binkert aber ein Spiel in Madrid. Dort befand sich Real nach durchwachsenen Jahren wieder im Aufschwung unter Präsident Santiago Bernabeu, der nach und nach einen schlagkräftigen Kader zusammenstellte. 

Saarbrücken gewann im für damalige Verhältnisse mit 75.000 Plätzen schon imposanten Nuevo Estadio Chamartin (heute Estadio Santiago Bernabeu) mit 4:0 - und das nach Ansicht der spanischen Presse auch hochverdient. Es war der erste Sieg einer deutschen Mannschaft gegen Real Madrid - und noch viel mehr. 

"Die hatten seit zwölf Jahren kein Heimspiel mehr verloren", erinnerte sich Binkert an den schon damals vortrefflichen Ruf der Königlichen: "Manchmal wurden in den fünfziger Jahren auch die Gegner bejubelt. Bei unserem 4:0-Erfolg in Madrid verneigten sich jedenfalls auch die Real-Fans. Es war ein unfassbares Erlebnis. Unwirklich irgendwie." 

Saarländische Nationalmannschaft: Verhinderte Weltmeister 

Unwirklich erscheint angesichts der Viertklassigkeit des Klubs heutzutage auch das Urteil des damaligen FIFA-Präsidenten Jules Rimet, der Saarbrücken nach dem Triumph in Madrid als "interessanteste Fußball-Mannschaft Europas" bezeichnete. Damals "waren wir in aller Munde", betonte Binkert. 

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Und nicht nur das: Gemeinsam mit neun anderen Spielern, darunter Stürmer Herbert Martin, Kurt Clemens und Waldemar "Fips" Philippi, stellte Saarbrücken ab 1950 mit der Aufnahme des saarländischen Fußballbundes in die FIFA auch das Gros der saarländischen Nationalmannschaft. Viele von ihnen standen mit guten Beurteilungen im legendären Notizbuch von Bundestrainer Sepp Herberger für die Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz, doch die Zeit war dagegen. 

"Die Vorstellung ist schon schön, dass ich 1954 in der Weltmeisterelf hätte stehen können. Aber die Politik ist eben erbarmungslos", sagte Martin einmal. Besonders er, der nach der Wiederaufnahme Saarbrückens in den deutschen Ligabetrieb ab der Saison 1951/52 die Oberliga Südwest zusammenschoss, und Philippi galten damals als Topspieler. 

Vor dem beinharten Verteidiger Philippi hatte sogar der große, aber sensible Fritz Walter Angst. "Bei Fips dreht sich mir der Magen um", hatte Walter gesagt. Mit dem 1. FC Kaiserslautern spielte der BRD-Kapitän regelmäßig in der Südwest-Klasse gegen Saarbrücken und Philippi. Einmal, so erzähltes es Walters Mannschaftskamerad Horst Eckel, zog sich Walter sein Trikot erst an, als herausgekommen war, dass "Fips" verletzt ausfallen würde. 

Er und die anderen Saarbrücker waren im Sommer 1954 dennoch auf Einladung des eigenen Verbandes im Berner Wankdorfstadion anwesend, als Deutschland sensationell zum ersten Mal Weltmeister wurde. "Wir haben die deutsche Mannschaft angefeuert und den Sieg bejubelt", erzählte Binkert. Am Tag nach dem Finale habe man "den Kameraden gratuliert und einen mit denen getrunken". 

Saarbrücken schlägt Milan: Die verschworene Gemeinschaft 

Ein Jahr später schlug jedoch die große Stunde für Clemens, "Fips", Binkert, Martin und Co. Als Repräsentant des französischen Protektorats durfte der 1. FC Saarbrücken am ersten Europapokal der Landesmeister teilnehmen. Im Achtelfinale traf Saarbrücken auf den AC Mailand, damals als Grande Milan bekannt und gefürchtet. 

"Die hatten diesen fantastischen schwedischen Angriff mit Gunnar Nordahl und Nils Liedholm. Der beste Sturm Europas", erklärte Binkert das damalige Kräfteverhältnis. Dazu gesellten sich noch Gunnar Gren, der das gefürchtete schwedische Rossoneri-Trio zum klangvollen wie noch heute bekannten Akronym "Gre-No-Li" komplettierte, und Weltmeister Pepe Schiaffino. 

Obwohl Saarbrücken "eine gute Truppe" war, wie es Werner Otto formulierte, war sich Milan seiner Sache sicher und Saarbrücken für den amtierenden italienischen Meister nur eine lästige Pflichtaufgabe auf dem Weg zum Titel. So wurde im Hinspiel am 1. November 1955 vor einer "Geisterkulisse" von nur 18.000 Zuschauern im riesigen San Siro unter anderem Starstürmer Nordholm geschont. Doch das hatte zunächst keine Auswirkungen. Milan spielte seinen Stiefel runter und führte bis zur 37. Minute nach anfänglichem Rückstand mit 3:1. 

Kurz vor der Pause verkürzte Philippi auf 2:3. Ein Tor, das Saarbrücken neuen Mut schenkte. "Wir waren eine verschworene Gemeinschaft", betonte Otto, der für den verletzt in Saarbrücken weilenden Binkert spielte. Und der verschworene Haufen aus dem Saarland machte nach der Pause ernst. Milan verfiel in eine spielerische Lethargie, wollte nur noch das Ergebnis verwalten und Saarbrücken gelang nach Toren von Karl Schirra (67.) und Martin (69.) die sensationelle Wende. 

Binkert, der von dem Sieg erst durch einen Anruf von Trainer Tauchert nach dem Spiel erfahren hatte: "Ich konnte es natürlich kaum glauben, war außer mir vor Freude. 4:3 in Mailand! 

1. FC Saarbrücken im Europapokal: Reise ohne Wiederkehr 

Drei Wochen später stand Binkert im Rückspiel 90 Minuten auf dem Platz und erlebte eine andere Milan-Mannschaft als noch im Hinspiel. 

"Die Mailänder machten nicht mehr den Fehler, uns zu unterschätzen. Sie entfachten einen wahnsinnigen Druck. Nach dem 0:1 kamen wir trotzdem durch ein Tor von mir zurück. Doch wir waren in der zweiten Hälfte stehend K.o.", erzählte er: "Auch wenn wir während dieser Zeit einen sagenhaft guten Fußball spielten, muss ich gestehen: der AC Mailand war im Rückspiel spielerisch einfach stärker." 

Für Saarbrücken war der historische Ausflug in den Europapokal anno 1955 eine Reise ohne Wiederkehr. Bis heute ist das 1:4 gegen Milan im Rückspiel das letzte Europapokalspiel der Vereinsgeschichte. Die Mailänder scheiterten nach der Hürde Saarbrücken erst im Halbfinale und das denkbar knapp am späteren Sieger Real Madrid. 

ONYL GERMANY Milan

Die Königlichen hatten nach der Schlappe gegen Saarbrücken 1951 noch einmal kräftig nachgerüstet und mit dem Transfer von Alfredo Di Stefano die Weichen für die erfolgreichste Ära der Klubgeschichte gestellt. 

1. FC Saarbrücken jagt 2020 den Glanz vergangener Tage 

Und während die Königlichen (13) und auch Milan (7) mittlerweile insgesamt 20 Landesmeister- oder Champions-League-Titel vereinen, war das Gründungsmitglied der Bundesliga Saarbrücken lange Zeit aus dem Profifußball verschwunden. 2008 folgte sogar der Sturz in die Oberliga. Nur ein paar Mal noch machte der Verein sportlich auf sich aufmerksam. 

Nach dem Anschluss des Saarlandes an die Bundesrepublik in Folge einer Volksbefragung am 1. Januar 1957 stand Saarbrücken im gleichen Jahr, ein Jahr später und noch einmal 1985 im Halbfinale des DFB-Pokals. Eine andere Sternstunde erlebte der Klub im April 1977, als Saarbrücken als Aufsteiger den großen, wenn auch sportlich in der Zeit eher unerfolgreichen FC Bayern München mit 6:1 zerlegte. 

In der Saison 2019/20 jagte der Klub jedoch dem Glanz vergangener Tage mehr als erfolgreich hinterher. In der Regionalliga Südwest war Saarbrücken vor der Corona-bedingten Zwangspause mit sechs Punkten Vorsprung Spitzenreiter. Ende Mai folgte der Saisonabbruch, in dessen Folge Saarbrücken zum Meister und Aufsteiger in die 3. Liga gekürt wurde. 

Die Feierlichkeiten mussten jedoch noch ein wenig warten. "Wir haben als Mannschaft gesagt, dass wir erst richtig feiern werden, wenn der DFB-Pokal gespielt ist", sagte etwa Stürmer Sebastian Jacob. Dort wartete bei der vierten Halbfinalteilnahme der Vereinsgeschichte der Champions-League-Aspirant Bayer Leverkusen. 

Die Sensation blieb am Ende aus, der Finaleinzug nach der 0:3-Niederlage nur ein Traum. Doch das war nicht weiter schlimm für die Saarländer. Denn zum einen polierte das Vordringen unter die letzten vier Mannschaften die Finanzen des Mitte der 1990er Jahre noch insolvent gegangenen Klubs auf. Zum anderen wird die Mannschaft aktuell einer Behauptung des Anfang 2020 verstorbenen Binkert gerecht. Der sagte 2013: "Der 1. FC Saarbrücken hat jedenfalls immer noch einen guten Namen."

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