Megan Rapinoe veredelt ein fantastisches Jahr mit dem Gewinn der Goal 50. Die 34-Jährige ist nicht nur die derzeit berühmteste Sportlerin der Welt, sondern ein Sprachrohr für die Unterdrückten und die Minderheiten, nicht nur in den USA. Megan Rapinoe ist eine Ikone unserer Zeit - auf und neben dem Platz.

Das Gros der Sportstars um den Planeten begreift sich singulär als das Leistungssportler, die neben dem sportlichen Erfolg auch so viel Geld wie möglich verdienen wollen. Daran ist nichts Falsches, es ist nicht verwerflich. So läuft das Geschäft nunmal.

Was darüber aber gerne vergessen wird, ist die enorme Strahlkraft und auch die Reichweite, die diese Personen haben - und sie ungenutzt verkümmern lassen.

Cristiano Ronaldo hat 188 Millionen Abonnenten bei Instagram und knapp 81 Millionen bei Twitter. Leo Messi und Neymar haben rund 125 Millionen bei Instagram, Basketball-Superstar LeBron James rund 50 Millionen.

In Deutschland liegen mit Toni Kroos, Manuel Neuer, Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil, Mario Götze, Marco Reus und Thomas Müller gleich sieben Fußballprofis unter den Top Ten der beliebtesten Instagramer, umrahmt von Bianca Heinicke alias Bibi von „Bibis Beauty Palace“, den Tiktok-Zwillingen Lisa und Lena und Supermodel Heidi Klum - was dann auch schon eine Vorahnung dafür liefert, was in diesen sozialen Kanälen so veröffentlicht wird: Bildchen beim Abendessen, beim Gassigehen mit dem Hund, im Tattoo-Shop oder von der letzten Halloween-Party.

Unverfänglicher Content, chemisch gereinigt und hochglanzpoliert, der zusammen mit den zahlreichen Werbe-Inhalten zu einer nichtssagenden, ebenso seichten wie austauschbaren Masse wird.

Politische oder gesellschaftskritische Kommentare sucht man indes vergebens.

Dabei wäre es ein Leichtes, Position zu beziehen, seine exponierte Stellung zu nutzen für die wirklich relevanten Dinge und Probleme unserer Zeit. Von den Damen und Herren Sportlern kommt dazu aber: Nahezu nichts.

Auch das macht Megan Rapinoe so besonders, weil sie diese akkurate Trennschärfe schafft zum grauen Allerlei. Im Netz und im richtigen Leben.

"Ihr seid mehr als Fans. Ihr seid mehr als Leute, die alle vier Jahre ein Fußballteam unterstützen. Ihr begegnet täglich Menschen in eurer Gemeinschaft. Wie könnt ihr sie besser machen, wie könnt ihr die Menschen um euch herum besser machen? Eure Familie, eure Freunde, die zehn oder hundert Menschen, die euch am nächsten stehen" war eine ihrer Botschaften, formuliert auf der Siegesfeier der US-Nationalmannschaft in New York nach dem WM-Triumph in diesem Sommer.

Sechs Minuten und neununddreißig Sekunden dauerte Rapinoes Monolog, immer wieder unterbrochen von Sprechchören ihrer Mitspielerinnen und den zahlreichen Fans in Manhattan.

"Das ist mein Auftrag an alle", sagte Rapinoe in der Rede, die von Millionen Usern auf der ganzen Welt geteilt wurde. "Wir müssen besser werden. Wir müssen mehr lieben, weniger hassen.

"Wir sollten mehr zuhören, weniger reden. Es ist unsere Aufgabe, die Welt zu einem besseren Ort zu machen! Ja, wir treiben Sport, ja, wir spielen Fußball, ja, wir sind Athletinnen. Aber wir sind so viel mehr als das. Nehmt uns als Beispiel! Wir haben rosa Haare, wir haben lila Haare, wir haben Tattoos und Dreadlocks.

"Wir sind weiße Frauen und schwarze Frauen und alles dazwischen. Unsere Gruppe ist unglaublich..."

Unvorstellbar, so etwas aus Manuel Neuers Mund zu hören, wenn der auf der Fanmeile in Berlin vor hunderttausenden deutschen Fußball-Fans spräche. Dabei wäre es so einfach.

Rapinoe jedenfalls büßt keinen Deut ihrer Popularität oder Strahlkraft ein, wenn sie sich zu politischen Missständen äußert, bei der Nationalhymne eisern schweigt oder sich gleich mit dem mächtigsten Mann der Welt anlegt.

Im Gegenteil hat ihr Streit mit Donald Trump am Ende sogar den einen oder anderen ermutigt, selbst aufzustehen und die Stimme zu erheben.

Rapinoe ist dabei immer auch sie selbst geblieben, diese eigenartige Mischung aus Aktivistin und All American Girl.

So hat sie es allein in diesem Jahr auf die Cover auf der Sports Illustrated, auf ESPNs The Body Issue, auf das Glamour Magazine oder die Marie Claire geschafft. Ihre Geschichte im Players‘ Tribune war eine der meist gelesenen im Jahr 2019.

Sie kann gleichzeitig für Diversität und Toleranz plädieren und dabei im knappen Outfit und Kaugummi kauend posieren. Man nimmt es ihr ab. Weil es echt ist.

Sie ist der erste Superstar ihres Sports weit über die Grenzen der USA hinaus, nicht zu vergleichen mit ihren Vorgängerinnen Mia Hamm oder Abby Wambach.

In 2019 hat sie alles abgeräumt, den WM-Titel mit ihrer Mannschaft, den Goldenen Ball als beste Spielerin, den Goldenen Schuh als beste Torschützin, den Titel Weltfußballerin des Jahres und nun auch die Goal 50 gewonnen.

Die Titel und Ehrungen waren als Hilfestellung ganz nützlich, um in das Bewusstsein ihrer Landsleute zu gelangen.

Sie hat ihre Popularität genutzt, "to have her say", um ihre Worte unter Volk zu bringen.

Und das genau zur rechten Zeit, als eine neue, laute Antipode zum Präsidenten gebraucht wurde und wo es immer noch gilt, Frauen-, Gender- und Homosexuellenrechte der breiten, von weißen Männern dominierten Masse nicht nur näherzubringen, sondern auch neue Denkmuster zu vermitteln.

"Be your best you" ist ihr Hashtag, ein Vorschlag, eine Ansage an die Fans. Und vielleicht hilft es auf dem Weg, das "beste Du" zu sein, wenn man sich ein wenig in Rapinoes Leben umschaut.

Ihre Heimatstadt Redding ist eine rote Insel im liberalen Bundesstaat Kalifornien.

Während um das 100.000-Einwohner-Städtchen herum fast ausschließlich die (blauen) Demokraten gewählt werden, ist Redding eine Hochburg der Republikaner. Megans Vater Jim ist Veteran und dessen Vater war ebenfalls schon in der Army.

Jim Rapinoe hat vor drei Jahren Trump gewählt. Und als Megan dann NFL-Quarterback Colin Kaepernick und dessen "kneeling protest" unterstützte, wurde
es unruhig im beschaulichen Redding.

Den Patrioten ging ihr Hymnenboykott zu weit, ihr Ansehen litt ebenso merklich darunter wie ihre Fußballschule, beheimatet in der nach ihr benannten Straße.

Es gibt nicht die Sportlerin Megan und die Privatperson Megan, alles gehört zusammen. Sie sagt, was sie denkt und denkt über das nach, was sie sagt. 2012 hatte sie ihr Coming-out, ist seitdem in der LGBT-Rights-Bewegung aktiv, also der Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Transgender-Initiative.

Sie und ihre Partnerin Sue Bird, ein Star der amerikanischen Frauen-Basketballiga WNBA, schafften es als erstes gleichgeschlechtliches Paar auf die Cover der Hochglanzmagazine.

Bei der Wahl zur Fußballerin des Jahres, wenn andere mit salbungsvollen Worten ihrer Mannschaft, ihren Trainern und vor allen Dingen sich selbst danken, ergriff sie die Möglichkeit, um unter anderem über die wichtigen Themen "equalpay" und Rassismus zu sprechen.

"We’re not going to the f**cking White House" ist längst ein legendäres Zitat, mehr noch: Eine Botschaft an alle da draußen. Wir lassen uns nicht vorschreiben, was wir zu tun haben! Wir machen uns nicht gemein mit einem, der spaltet, statt zu versöhnen.

Rapinoe hat in zwanzig Jahren im Fußball so ziemlich alles gesehen und erlebt.

Bei der Heim-WM der Amerikanerinnen schleppte ihr Vater sie und ihre Zwillingsschwester Rachael zum Halbfinalspiel der USA gegen Brasilien, da war es sofort um sie geschehen.

158 Spiele hat sie für das US-Team bestritten, sie hat Weltmeisterschaften dominiert und verpasst, ebenso wie die Olympischen Spiele. Auch mehrere schwere Knieverletzungen konnten sie nicht stoppen.

Rapinoe ist längst ganz oben angekommen. Im populärsten Spiel der Welt ist sie die Ikone für eine ganze Generation, auf und abseits des Platzes.

Und wer jetzt glaubt, sie liebe ihr Land nicht wegen des Boykotts, Trump und des ganzen Unrechts, das dort geschieht, der irrt.

Sie liebt ihr Land, sie will es ändern, es besser machen. Und wenn das keine echte Liebe ist - ja was denn dann?