Der Sommer, der Messi veränderte

Argentinien-Star Lionel Messi und die Weltmeisterschaften

Lionel Messi und die Weltmeisterschaften. Es ist eine Verbindung voller Dramatik, Enttäuschungen und Lehren. Eine Geschichte, erzählt von Männern, die dabei waren.

2006

Als Lionel Messi von der WM 2006 zum FC Barcelona zurückkehrte, rieben sich die Bosse der Katalanen verwundert die Augen. Ihr großes Juwel hatte sich spürbar verändert. La Pulga war nicht mehr dieser unbekümmerte Dribbelfloh, der als 18-Jähriger zur Albiceleste gereist war, um bei der Endrunde in Deutschland die Welt zu erobern. Er war ernsthafter und vor allem zielstrebiger. Das lag aber nicht an der Enttäuschung über das bittere Aus im Viertelfinale gegen die Gastgeber. Vielmehr hatte Messi im Kreise der Nationalmannschaft eine ganz wichtige Lektion gelernt: dass es nur ums Gewinnen geht.

Gerardo Salorio war damals hautnah dabei. Der inzwischen 59-Jährige gilt in Argentinien als herausragender Junioren-Trainer, er führte die U20 der Südamerikaner fünfmal zum WM-Titel, unter anderem 2005 mit Messi als Superstar.

Ein Jahr später arbeitete Salorio bei der Senioren-WM im Trainerstab von Jose Pekerman und nahm den aufstrebenden Youngster unter seine Fittiche. Bei Goal erinnert er sich an die Zeit während und kurz nach der WM: "Als Leo damals wieder bei Barca war, fragten die Sportdirektoren uns, was wir mit ihm gemacht hätten. Sie sagten, er habe sich verändert."

Eigentlich war es ganz einfach. "Wir hatten ihm nur erklärt, dass Fußball in Argentinien anders gelebt wird. Gewinnst du hier nicht, bringen sie dich um. In Spanien geht es da entspannter zu", sagt Salorio und spielt damit auf die schon sprichwörtliche "Maldad" an. Ein Ausdruck, der in Argentinien benutzt wird, um die Grausamkeit und Härte des Fußballs zu beschreiben: "Ich selbst brauche das nicht. Mein Gegner ist mein Kollege und nicht mein Feind. Aber so ist es nun mal in Argentinien. Fußball ist hier das Leben."

Messi hatte damit wenig bis nichts zu tun. Er war als 13-Jähriger aus Rosario nach Barcelona gewechselt. So schüchtern und introvertiert er außerhalb des Rasens war, so leichtfüßig trat er in den Spielen auf. Der Ruf des großen Talents eilte ihm voraus und auch bei seiner ersten WM-Teilnahme wurden schon die ganz großen Dinge von ihm erwartet, speziell nach seinem Turnierdebüt.

Messi durfte als jüngster jemals bei einer Endrunde eingesetzter Argentinier am zweiten Spieltag der Gruppenphase als Einwechselspieler gegen Serbien 16 Minuten lang ran und erzielte prompt seinen ersten Treffer. Das Turnier begann wie ein Märchen, entwickelte sich aber zu einem harten Lernprozess.

Die erste wichtige Lektion gab es von Salorio nach dem letzten Gruppenspiel gegen die Niederlande. Messi hatte in der Startelf gestanden und phasenweise atemberaubend gespielt. Der Ball klebte ihm an seinem Fuß, elegant ließ er routinierte Gegner wie Philip Cocu oder Andre Ooijer stehen. Bloß sprang nichts dabei heraus. Also hielt ihm Salorio nach der Nullnummer zum Abschluss der Vorrunde eine Standpauke.

"Ich sagte zu ihm: 'Du hast vier Chancen herausgespielt, aber Du hast kein Tor geschossen. Jedes Tor hat den gleichen Wert und es ist total egal, ob du vorher vier oder fünf Gegner ausspielst oder den Ball einfach über die Linie drückst.' Das mussten wir ihm tagtäglich einbläuen. Es ging darum, einem Jungen beizubringen, was es bedeutet, Erwachsenenfußball zu spielen."

Für Salorio war es ein Prozess des "Formens und Ausbildens" bei dem Teenager, der in einer Mannschaft mit Superstars wie Juan Riquelme, Hernan Crespo oder Carlos Tevez eine Mitläuferrolle einnahm: "Messi verhielt sich meistens still und die älteren Spieler um ihn herum kümmerten sich um ihn und beschützten ihn."

Jene Zurückhaltung legte Messi auf dem Rasen ab. Als er in der Schlussphase des Achtelfinals gegen Mexiko eingewechselt wurde, erzielte er kurz darauf einen Treffer, der allerdings nicht anerkannt wurde. Salorio betont, dass dieses Tor heute, mit der Unterstützung des Video-Assistenten, als regulär gewertet worden wäre.

Es folgte das Aus im Viertelfinale gegen Deutschland in einem Spiel zweier Giganten, für Messi gleichbedeutend mit der ersten großen Enttäuschung auf der größten Bühne, die es für einen Fußballer gibt. Auf einer Bühne, auf der Jose Pekerman für ihn nicht einmal eine Komparsenrolle vorgesehen hatte.

Zu Beginn des Spiels saß Messi draußen. Immer bereit, als Joker mit seiner Dynamik gegen einen müde gespielten Gegner Nadelstiche zu setzen. Argentinien führte durch Roberto Ayalas Treffer zu Beginn der zweiten Halbzeit. Gut für die Albiceleste, schlecht für Messi. Denn das Spiel entwickelte sich so, dass Pekerman ihn nicht mehr einwechselte.

Salorio erklärt: "Es waren noch 25 Minuten zu spielen, wir führten und Pekerman sagte, dass Deutschland einzig durch einen hohen Ball noch ausgleichen könne. Also wechselte er Riquelme aus und nahm Esteban Cambiasso herein. Es passierten ein paar Dinge, die Unruhe brachten, wie Abbondanzieris Verletzung. Zwölf Minuten vor dem Ende traf Pekerman die Entscheidung, Julio Cruz in das Spiel zu bringen, um einen kopfballstarken Stürmer zu haben, der sich in beiden Strafräumen durchsetzen konnte."

Aber Pekermans Plan ging nicht auf. "Zwei Minuten später glich Deutschland aus und es ging ins Elfmeterschießen. Nach den heutigen Regeln hätten wir in der Verlängerung eine vierte Auswechslung vornehmen dürfen. Dann hätten wir Messi auf dem Platz gehabt und das Resultat wäre ein anderes gewesen", mutmaßt er.

Die Deutschen jubelten, vereinzelt gab es Zoff zwischen den DFB-Kickern und den Argentiniern, während Messi auf der Bank kauerte mit einem Blick voller Enttäuschung.

Salorio bemüht einen Vergleich: "Das ist wie im Rennsport. Niemand wird am ersten Tag Formel-1-Weltmeister. Das ist ein stetiger Prozess. Messi musste das 2006 verstehen."

Die WM sei prägend für Messis weitere Entwicklung gewesen, glaubt Salorio: "Für mich fühlte es sich an, als formten wir diesen Spieler. Anschließend wurde er zu dem Top-Mann, der er heute ist. Wir lehrten ihn, hungrig zu sein." Und auch, dass Misserfolg in Argentinien nicht verziehen wird. Ein Umstand, der Messi noch heute zu schaffen macht.

2010

Der Erfolgshunger, den ihm unter anderem Salorio vermittelt hatte, trug in den nächsten Jahren Früchte. Als in Südafrika die Weltmeisterschaft 2010 losging, hatte Lionel Messi den ersten seiner fünf Weltfußballertitel gewonnen und sich beim FC Barcelona zum besten Offensivspieler der Welt entwickelt. Der Druck auf den damals 23-Jährigen war vor dem Turnierstart riesig und er potenzierte sich durch die Tatsache, dass Diego Maradona als Trainer der Albiceleste allgegenwärtig war. Die Vergleiche zwischen Messi und dem argentinischen Idol wurden damals bereits angestellt.

Fernando Signorini war zwischen 1983 und 1994 Maradonas Fitnesstrainer und Teil dessen Trainerstabs in Südafrika. Dort arbeitete er eng mit Messi zusammen. Mit einem Lächeln auf den Lippen verrät er bei Goal:

"Seine Beziehung zu Diego war wundervoll. Sie waren wie ein Professor und sein Student. Es gab Bewunderung von beiden Seiten und es wirkte, als schauten sie beide in einen Spiegel. Diego sah jemanden, der sein Nachfolger war, und Leo jemanden, der das erreicht hatte, was er noch erreichen wollte."

In ihrem Wesen waren die beiden Ausnahmespieler allerdings grundverschieden. "Wenn Messi in seiner eigenen Welt ist, dann hat er die phänomenale Gabe, sich total zu konzentrieren. Auch wenn er glücklich ist, wird man ihn nur selten überschwänglich erleben", beschreibt Signorini.

Er sagt: "Das ist ziemlich komisch, aber das ist sein Charakter. Er hat nicht diese überbordende Intensität, die Diego hatte. Trotzdem ist es faszinierend zu sehen, wie natürlich und ruhig er sich in den turbulentesten Situationen verhält."

In den vier Jahren seit der WM in Deutschland hatte Messi mit Barca die größten Titel geholt und zahlreiche individuelle Auszeichnungen abgeräumt. Zu einem kommunikativeren Spieler in der Umkleide hatte ihn das aber nicht gemacht.

"Ich glaube, von den besten Spielern der Geschichte des Fußballs, und dazu gehört er zweifellos, ist er der ungewöhnlichste und interessanteste. Es wirkt, als könne er sich von allem um sich herum abschotten", sagt der Fitnesscoach

Von außen wirke Messi "wie ein ruhiger Fluss, aber innen brodelt ein Vulkan".

Messi nahm 2010 in der Albiceleste die zentrale Rolle ein, seine namhaften Zuarbeiter waren Tevez, Gonzalo Higuain, Angel Di Maria und Juan Sebastian Veron. Messi initiierte eine Reihe von Toren, erzielte aber selbst keinen einzigen Turniertreffer.

Argentinien marschierte trotzdem durch die Vorrunde und ließ in seiner Gruppe Nigeria, Südkorea und Griechenland hinter sich. Es folgte die K.o.-Phase mit alten Bekannten. Zunächst warteten die Mexikaner, die 3:1 besiegt wurden, und dann Deutschland. Erneut.

"Die Mannschaft hatte einen Nachteil, weil viele Spieler sehr jung waren. Bei einer Weltmeisterschaft mit Gegnern, die so erfahren sind wie das deutsche Team, ist das ein großes Handicap“, erklärt Signorini die 0:4-Klatsche gegen das DFB-Team.

Maradonas junger Mannschaft, die ihr Heil in der Offensive gesucht und keine Balance gefunden hatte, wurde von Joachim Löws Team die Grenzen aufgezeigt. Messis Geschichte blieb erneut unvollendet. Immerhin eine Parallele zu Maradona, der bei der WM 1982 im Alter von ebenfalls 23 Jahren nicht zum ganz großen Wurf ausgeholt hatte.

2014

In Brasilien war es dann angerichtet. Auch Signorini erwartete 2014 große Dinge von der Albiceleste: "Wir wussten, dass die WM 2014 für Leo und den Rest der Mannschaft das Turnier werden sollte. Vier Jahre mehr Erfahrung sind von unschätzbarem Wert."

Der Druck auf Messi war noch einmal höher als 2010. In Argentinien lechzten sie nach dem ersten WM-Titel seit 1986, die Misserfolge der Nationalmannschaft wurden auch ihrem Superstar und Kapitän angelastet. Messi spiele lieber für Barca als für sein Land, hieß es. Er identifiziere sich nicht komplett mit Argentinien, weil er das Land schon so früh verließ, lautete ein anderes Vorurteil. Nun sollte er bitteschön abliefern.

Der Angreifer interpretierte seine Leaderrolle innerhalb der Mannschaft als die eines stillen Anführers. Julian Camino, Teil des Stabs des damaligen Trainers Alejandro Sabella, spricht bei Goal über seine Erfahrungen mit Messi: "Er mag es nicht, in der Öffentlichkeit zu stehen. Er ist ziemlich schüchtern. Er posiert oft für Fotos und schreibt viele Autogramme, aber ich glaube, das ist ihm unangenehm. Auf dem Feld ist er dann dieser großartige Spieler, der an jeder Situation beteiligt ist. Er ist der Beste auf der Welt. Er kann ein Spiel mit einem Freistoß gewinnen - oder indem er einen Fehlpass erahnt, der ihm dann vor die Füße fällt. Wir haben es 2014 erlebt."

In der Tat geriet die Vorrunde zu einer reinen Messi-Show: Mit einem hübschen Solo-Treffer eröffnete er das Turnier gegen Bosnien und brach dann kurz vor Schluss mit einem Tor die Herzen der tapfer kämpfenden Iraner. Zwei weitere Treffer erzielte er beim abschließenden Arbeitssieg gegen Nigeria.

Die Argentinier wirkten in jener Gruppenphase nicht überzeugend, Messi dagegen sehr wohl.

Der Kapitän marschierte beispielhaft voran und trug seine Mitspieler von Sieg zu Sieg. Es lief alles nach Plan.

"Wir boten ihn auf der rechten Seite auf", sagt Camino: "Wenn er von dort nach innen zieht, hat er das Tor offen vor sich, kann abschließen oder einen Stürmer bedienen. Alejandro stellte auch immer noch einen oder zwei weitere Stürmer auf, damit Messi nicht so massiv verteidigt werden konnte und Freiräume auf dem Flügel hatte."

In der K.o.-Runde hatte Messi allerdings weniger Freiräume und die Argentinier taten sich schwer. Gegen die Schweiz brauchten sie die Verlängerung, im Duell mit Belgien reichte ein früher Higuain-Treffer. Nach 120 torlosen Minuten im Halbfinale gegen die Niederlande wurde Keeper Sergio Romero mit zwei parierten Versuchen im Elfmeterschießen zum Helden. Es war kein schöner Fußball, aber die Albiceleste stand im Finale und Messi an der Grenze zur Unsterblichkeit.

"Meine stärkste Erinnerung stammt von dem Sieg gegen Holland", erzählt Camino: "Man sah Messi, wie er schrie und weinte. Da merkte man, wie viel das Argentinien-Trikot diesen Spielern bedeutet. Das wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Das WM-Finale mit Argentinien war etwas, auf das wir so lange gewartet hatten."

Zwischen dem großen Triumph und den Argentiniern stand allerdings einmal mehr die deutsche Elf, die Brasilien mit einem denkwürdigen 7:1 aus dem Turnier befördert hatte.

Im Maracana entwickelte sich ein Endspiel auf des Messers Schneide. Higuain leistete sich früh einen Fehlschuss in aussichtsreicher Position. Messi selbst verzog während der zweiten Halbzeit. Nach 90 spannenden Minuten ohne Torerfolg ging es in die Verlängerung.

Argentiniens Spieler versammelten sich, bildeten einen Kreis. Die Fans in der Heimat sahen, wie Javier Mascherano und nicht Lionel Messi die Mannschaft auf die folgenden 30 Minuten einschwor. Der Kapitän stand etwas abseits, in jener Konzentrationszone, die Signorini so gut beschrieb.

Camino betont allerdings, diese Szene sage nichts über Messis Anführerqualitäten aus: "Nein, das beschreibt überhaupt nicht, wie er sich vor der Gruppe verhält. Wir waren in einem Finale, wir hatten eine Pause und er konzentrierte sich. Es bedeutet doch nicht, dass er kein Anführer ist, weil er sich nicht an der Diskussion beteiligte. Mascherano und Messi sind zwei unterschiedliche Leadertypen. Mascherano spricht wahrscheinlich mehr, Messi regelt es über seine Präsenz."

Das bezeichnendste Foto von Messi sollte aber erst noch geschossen werden. In den schmerzhaften Momenten zwischen Mario Götzes Siegtreffer und der Pokalübergabe erlaubte sich La Pulga einen Blick auf das, was hätte sein können. Da stand er nun, nur ein paar Meter entfernt vom WM-Pokal und starrte ihn an.

"Nach der Niederlage war er unglaublich traurig", sagt Camino: "Er hatte gezeigt, dass er die Weltmeisterschaft hätte gewinnen können. Es war eines der besten argentinischen Spiele. Wir hatten drei klare Torchancen, Deutschland nur eine. Aber Stück für Stück entglitt uns das Spiel."

Er ergänzte: "Es war nicht nur Messi. Wir alle, die Spieler und die Betreuer, konnten nicht anders, als einen Blick auf diesen Pokal zu werfen. Er stand direkt neben uns. Wir waren so nah dran, ihn zu holen."

Wird dieses Foto das Symbolbild für Messis WM-Vermächtnis? Vielleicht sogar für seine gesamte Karriere?

Die Geschichte wird in Russland fortgesetzt und es ist womöglich Lionel Messis letzte Chance, jenen Erfolgshunger zu stillen, den er bei seiner ersten WM-Teilnahme vermittelt bekam.