HINTERGRUND
Ein Hochhaus in Bondy, gegenüber rauschen die Fernfahrer über das Autobahndreieck. Das Ambiente: vielmehr trist als glamourös. Typisch für einen Pariser Vorort eben. Normalerweise. Doch seit einem Tag Anfang September ist etwas anders. Etwas Auffälliges, auch für die Männer hinter dem Steuer der LKW unübersehbar: Kylian Mbappe, in Übergröße. "Stadt der Möglichkeiten", prangt als Schriftzug auf dem Plakat, den 18-jährigen neuen Superstar von Paris Saint-Germain einrahmend.
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Mbappe ist das Vorbild, das erfolgreiche Beispiel, das die Kids in Bondy so dringend brauchen. Hier, in der 53.000 Einwohner zählenden Banlieue von Paris, nur rund neun Kilometer östlich der Tore der französischen Hauptstadt. Wer hier aufwächst, lebt vornehmlich in Sozialwohnungen, hat meist kaum eine Perspektive - außer den Fußball.
Denn so wie in allen der unzähligen Vororte von Paris gibt es auch in Bondy neben Kriminalität, Drogenkurieren und Armut vor allem eines: Talent. Massig Talent. Speziell, wenn es um Fußball geht. Auf den Straßen, den Beton- oder Kunstrasenplätzen tummeln sich reihenweise Jungs, ob Franzose, Marokkaner, Algerier, Tunesier, Senegalese, Kameruner oder Ivorer, die mit der Kugel unglaubliche Dinge anstellen können. Multikulti wird groß geschrieben.
Galerie: Diese Talente verpasste PSG
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"In Paris und der umliegenden Großregion gibt es wirklich unfassbar viele sehr talentierte Jungs", bestätigt Julien Quelen von Goal Frankreich . Eigentlich, so könnte man meinen, ein Paradies für PSG. Man müsste sich doch nur vor der eigenen Haustür umschauen und könnte reihenweise Hochtalentierte früh an den eigenen Klub binden.
Doch genau das wollte den Verantwortlichen des Mega-Klubs aus der Hauptstadt lange nicht gelingen. Beziehungsweise es war ihnen offenbar nicht wichtig genug. Die Liste derer, die in Paris, in den Banlieues und der näheren Umgebung aufwuchsen, heute die Fußballwelt erobern, aber als Kinder und Jugendliche nie von PSG entdeckt wurden, ist lang.
Kylian Mbappe kickt mit den Jungs in seiner Banlieue BondyPaul Pogba und Anthony Martial etwa wuchsen rund 20 Kilometer von Paris in Vororten auf, spielten dort in kleineren Klubs. Martial ging mit 13 zu Olympique Lyon, Pogba mit 14 zu Le Havre. Riyad Mahrez hat seine Wurzeln in Sarcelles, einer der gefährlichsten Banlieues, PSG holte ihn aber nie. Auch Geoffrey Kondogbia wurde vom Pariser Vorzeigeklub nie entdeckt, Tiemoue Bakayoko spielte für Olympique Paris oder CA Paris, für PSG allerdings nicht.
Anzahl der Scouts verdreifacht, Fokus auf Paris
Beispiele, die belegen, was lange das primäre Problem von PSG im Nachwuchsbereich war: haarsträubende Versäumnisse im Scouting, der fehlende Antrieb, mit eigens herangezogenen Spielern dem Klub eine besondere Identität zu verleihen. "Bevor die Besitzer aus Katar 2011 übernahmen, war es nie in der DNA von PSG verankert, die erste Mannschaft um Spieler aus dem eigenen Nachwuchs herum aufzubauen", erklärt Goals Frankreich-Experte Quelen. "Zwar gab es schon früher vereinzelt Jungs wie Clement Chantome oder Mamadou Sakho, die den Sprung nach oben schafften, aber wirklich nachhaltig wurde das Ganze nicht behandelt."
Dementsprechend geringen Wert legte man bei PSG auf das Scouting. Es gab schlichtweg zu wenige Augen, um die Juwele, die sich in unmittelbarer Nähe zuhauf tummelten, zu entdecken. Vor 2011, vor dem Einstieg der Kataris, beschäftigte PSG um die zehn Scouts insgesamt. Inzwischen sind es deren 30, von denen einige hochqualifizierte Sichter ausschließlich in der Region Paris arbeiten.
So soll vermieden werden, dass Jungs wie Pogba, wie Mahrez oder wie einst Thierry Henry trotz der Nähe nicht zu PSG kommen. Letzterer, in Pariser Vororten aufgewachsen, ging stattdessen in den Nachwuchs der AS Monaco, schaffte dort den Durchbruch, wurde zum Weltstar. Auch, so betont Quelen, weil PSG zu jener Zeit noch nicht das gute Ansehen hatte wie heutzutage, noch lange nicht so erfolgreich war.
Dass Kylian Mbappe erst Ende August für 180 Millionen Euro zu PSG kam, lag nicht mehr an der mangelnden Reputation. Er ist das jüngste und offensichtlichste Beispiel, das die Frage aufwirft: Warum hat ihn PSG nicht schon viel früher zum Nulltarif geholt? Denn Mbappe kickte auch lange vor der Nase von PSG, für AS Bondy, den Klub seiner Banlieue, die nun sein Konterfei in XXL ziert. Statt zu den Parisern ging er mit 13 allerdings nach Monaco. Genau wie damals Henry.
Mbappe hatte PSG aber sehr wohl auf dem Schirm. "Man wollte ihn holen, er flog keinesfalls unter dem Radar des Klubs", weiß Quelen. Der Fall Mbappe, der als Jugendlicher unter anderem bei Real Madrid oder Chelsea Probetrainings absolvierte, zeugt vielmehr von dem nächsten Problem, das PSG logischerweise hat. Alle großen Klubs, nicht nur aus Frankreich, sondern aus ganz Europa, suchen in Paris nach den besten Talenten, wissen, dass dort massig Jungs mit enormem Potenzial herumlaufen. Die Konkurrenz ist brutal, die Schwierigkeit, so viele Rohdiamanten wie möglich in die hauseigene Akademie zu lotsen, entsprechend hoch.
Doch PSG stellt sich immer besser auf, um im globalen Wettstreit um die größten Talente vor der eigenen Haustür gewappnet zu sein - nicht nur mit dem seit 2011 stark intensivierten Scoutingsystem. Das Trainingszentrum für den Nachwuchs wurde stetig aufgewertet und professionalisiert, ein einheitliches Spielsystem in Anlehnung an die Nachwuchsschmiede des FC Barcelona eingeführt, die Bedingungen damit attraktiver gemacht.
GoalMan hat mittlerweile Akademien in elf Ländern, unter anderem in Tunesien, Ägypten oder Portugal, scoutet rund um den Globus - aber inzwischen eben auch regional nahe am Optimum. PSG ist Kooperationen mit den Vereinen aus den Vororten und der Region eingegangen, hat sich teilweise Vorrechte auf deren beste Nachwuchsspieler gesichert. "Die größten Talente aus Paris sollten PSG künftig nicht mehr oder deutlich seltener durch die Lappen gehen", sagt Goals Frankreich-Experte Quelen.
Die Probleme reißen damit jedoch nicht ab. "Einen fließenden Übergang zwischen Akademie und erster Mannschaft gibt es nicht", sagt Quelen. Klar, da sind Adrien Rabiot, Presnel Kimpembe und Alphonse Areola, da ist Christopher Nkunku, die es aus dem Nachwuchs zum Stammspieler ganz oben gebracht haben respektive zumindest regelmäßig im Kader stehen. Gemessen am Potenzial ist das aber viel zu wenig.
Übergang von Nachwuchs zu Profis weiter schwierig
"Die besten Jugendspieler unterschreiben ihren ersten Profivertrag dann meist nicht bei PSG", weiß Quelen. Dan-Axel Zagadou (BVB) oder Boubakary Soumare (Lille) sind die jüngsten Beispiele, die ob der großen Konkurrenz im ersten Team mangels Perspektive lieber die Ferne suchten. Talente wie Jean-Kevin Augustin oder Kingsley Coman sahen letztlich ebenfalls keine Schnitte im Starensemble aus dem Prinzenpark. Letzterer, inzwischen seit über zwei Jahren beim FC Bayern, kritisierte mal: "Ich habe bei PSG nichts gelernt, ich wurde nicht berücksichtigt."
Moussa Dembele etwa kehrte PSG noch früher den Rücken. Der Celtic-Star und Goalgetter des schottischen Meisters, der längst bei mehreren Top-Klubs auf dem Zettel steht, wuchs in der Nähe von Paris auf, kam früh zu PSG. Doch schon mit 16 verließ er die Nachwuchsschmiede des Klubs aus seiner Heimatstadt, wechselte zum FC Fulham. "Ich fand, dass sie bei PSG den Talenten aus der Akademie nicht genug vertrauten", trat Dembele einst nach.
Bei Jungs wie Timothy Weah, Yacine Adli, Alec Georgen oder Claudio Gomes soll es besser laufen, soll deren Entwicklung in einer Zukunft bei den Profis von PSG münden. Sie gelten als die wohl größten Talente im hohen Jugendbereich der Pariser Akademie, die demnächst den Sprung nach oben schaffen könnten. Und Adli, Georgen und Gomes stammen allesamt aus Pariser Vororten.
Sie sind Kids aus den Banlieues. Für sie könnte Paris tatsächlich die "Stadt der Möglichkeiten" sein, wie es rund um das Konterfei von Mbappe auf jenem Hochhaus in Bondy prangt. Fakt ist: Bisher war sie es für viel zu wenige der hochbegabten Kicker aus den Banlieues, von den Fußballplätzen im Block. Doch sie ist mittlerweile auf einem guten Weg. Einem Weg, der nicht leicht ist. Doch das ist es für die Jungs aus den Vororten ja ohnehin nicht.